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Der Staat des Bla-Bla-Bla
WIRD DEUTSCHLAND ein Gesetz verabschieden, das von jedem Türken, der die Staatsbürgerschaft beantragt, verlangt, dass er der „Deutschen Bundesrepublik, dem Nationalstaat der Deutschen“, Treue schwört? Was für eine lächerliche Idee!
Wird der US-Senat ein Gesetz annehmen, das jeden Kandidaten für die Staatsbürgerschaft zwingt, den „Vereinigten Staaten von Amerika, dem Nationalstaat der ….“, Treue schwört ? Ja, wessen Nationalstaat? „Des amerikanischen Volkes“? „Des angelsächsischen Volkes“? „Des christlichen Volkes“? eine absurde Idee.
Aber die Knesset ist dabei, ein Gesetz zu verabschieden, das von jedem Nicht-Juden, der die israelische Staatsbürgerschaft wünscht, verlangt, dem Staat Israel, dem „Nationalstaat des jüdischen Volkes“ Treue zu schwören. Es scheint, dass unsere unbedarften Gesetzgeber darin nichts Fragwürdiges sehen.
Der Staat des Bla-Bla-Bla
Uri Avnery
WIRD DEUTSCHLAND ein Gesetz verabschieden, das von jedem Türken, der die Staatsbürgerschaft beantragt, verlangt, dass er der „Deutschen Bundesrepublik, dem Nationalstaat der Deutschen“, Treue schwört? Was für eine lächerliche Idee!
Wird der US-Senat ein Gesetz annehmen, das jeden Kandidaten für die Staatsbürgerschaft zwingt, den „Vereinigten Staaten von Amerika, dem Nationalstaat der ….“, Treue schwört ? Ja, wessen Nationalstaat? „Des amerikanischen Volkes“? „Des angelsächsischen Volkes“? „Des christlichen Volkes“? eine absurde Idee.
Aber die Knesset ist dabei, ein Gesetz zu verabschieden, das von jedem Nicht-Juden, der die israelische Staatsbürgerschaft wünscht, verlangt, dem Staat Israel, dem „Nationalstaat des jüdischen Volkes“ Treue zu schwören. Es scheint, dass unsere unbedarften Gesetzgeber darin nichts Fragwürdiges sehen.
Und da hängt schon eine (neue) Gesetzesvorlage in der Luft, die verlangt, dass alle israelischen Bürger oder vielleicht nur die nicht-jüdischen diesem Nationalstaat des jüdischen Volkes Treue schwören oder …
Binyamin Netanyahu hat vorgeschlagen, den Siedlungsbaustopp für zwei oder drei weitere Monate auszudehnen – wenn die palästinensische Führung den Staat Israel als den Nationalstaat etc etc.
Und man mag sich fragen, was die Ursache dieser Obsession ist, diese Forderung von nah und fern, von Ausländern und Nicht-Ausländern zu verlangen, dass Israel der „Nationalstaat des jüdischen Volkes“ sei?
Der Staat Israel besteht schon 62 Jahre. Er ist eine regionale Militärmacht, eine Atommacht, mit einer Wirtschaft, die in einer von Krisen geschüttelten Welt Neid hochkommen lässt, der ein dynamisches kulturelles, wissenschaftliches und soziales Leben hat. Warum also diese obsessive Notwendigkeit einer Bestätigung seiner Existenz und seiner ideologischen Definition?
Warum das Fanfarengetöse, das jeden zweitrangigen Künstler ankündigt, der bereit ist, in Israel zu erscheinen?
Was ist hier los? Was ist der Grund für diesen klaffenden Mangel an Selbstvertrauen? Diese Zwangsvorstellung für eine Bestätigung und aus Respekt vor der ganzen Welt? Eine kollektive geistige Störung? Ein Problem für politische Psychologen oder vielleicht sogar für politische Psychiater?
ICH KANN nicht anders, als diese pathetischen Bedürfnisse mit der Stimmung während unserer Jugendzeit vergleichen.
Mitte der 40er-Jahre bestand der hebräische Yishuv (Gemeinschaft) aus 600 000 Einwohnern. Aber unser Selbstvertrauen war so groß wie das einer Nation mit sechzig Millionen.
Wir hatten keinen Staat. Wir kämpften noch gegen eine fremde Herrschaft. Aber eine große Anzahl ideologischer Gruppen brütete großartige Pläne aus. Die „Kanaaniter“ sprachen vom „hebräischen Land“, das vom Mittelmeer bis zum Euphrat reicht. Gruppen vom rechten Flügel stimmten für ein „Königreich Israel“ vom Nil bis zum Euphrat. Die „Bema’avak“- (im Kampf) Gruppe, ( zu der ich gehörte), sprach über einen vereinigten „semitischen Raum“, der Palästina, alle arabischen Länder und vielleicht sogar die Türkei, den Iran und Äthiopien mit einschließt. Ein lokaler Wasserexperte veröffentlichte einen Plan für die rationale Aufteilung des Wassers aller Flüsse der Region, des Tigris und des Euphrats, des Orontes, des Litani und Jordans und vielleicht auch des Nils – zu Gunsten aller Völker der Region. Keiner dachte daran, dass diese Pläne ein Ausdruck von Größenwahnsinn sind.
Und jetzt sind wir hier, zwölf mal größer. Wir haben einen Staat, um den uns die meisten Völker der Welt beneiden. Und wir betteln darum, anerkannt zu werden. Wir verlangen, dass das palästinensische Volk, das noch keinen Staat hat, unsere Selbstdefinition anerkennt. Dass eine Braut aus Ramallah, die ihren Cousin in Haifa heiraten will, „den Nationalstaat des jüdischen Volkes“ anerkennt. Ist das nicht lächerlich?
ZYNIKER WERDEN sagen: warum nimmst du dies so ernst? Schließlich ist dies doch nur ein Trick von Benyamin Netanyahu und/oder Avigdor Lieberman, um persönlichen Gewinn daraus zu ziehen.
Das stimmt natürlich.
Netanyahu benützt diesen Trick, um die Friedensverhandlungen zu sabotieren, die noch gar nicht angefangen haben. Er will die Verhandlungen verhindern, die - Gott bewahre – zu einem Frieden führen könnten, der uns zwingen würde, die Siedlungen zu evakuieren und die Westbank, den Gazastreifen und Ost-Jerusalem an die Palästinenser zurückzugeben.
Die Friedensverhandlungen sind der Feind. Es ist besser, einen Feind zu töten, solange er klein ist, am besten, wenn er noch nicht das Licht der Welt erblickt hat . Die Forderung, den Staat von Bla-Bla-Bla anzuerkennen, ist wie ein Instrument für einen Schwangerschaftsabbruch.
Wenn Netanyahu glaubt, dass er dieses Ziel durch die Forderung erreichen könnte, dass die Palästinenser Israel als einen „vegetarischen Staat“ anerkennen würden, dann hätte er dies getan.
Warum dies also ernsthaft diskutieren?
Avigdor Lieberman spricht zu seinen potentiellen Wählern und besonders zu den 1,25 Millionen Immigranten aus der Sowjetunion, die noch immer nicht richtig Wurzeln im Land geschlagen haben. Sie sind mit einem totalitären Kult der Macht, internem Terror und mit der Arroganz der Supermacht ihrer früheren Heimat, bevor sie zusammenbrach, aufgewachsen. Liebermans politische Ideen – ein ideologischer Treueschwur, der Transfer von Menschen und Gebieten und in Zukunft auch Gulags für die Feinde des Regimes – kommen aus der geistigen Welt eines Stalin.
Für Lieberman ist all das Gerede über einen Treueschwur gegenüber einem jüdischen Sowjet nichts anderes als ein Mittel, die Führung der israelischen Rechten zu gewinnen und von dort die Führung von ganz Israel. Dafür ist er bereit, den 20% der Bürger Israels - also jedem 5. Israeli – den Krieg zu erklären. Das hat es bis jetzt in keinem demokratischen Land gegeben.
Das ist offensichtlich. Warum soll man das so ernst nehmen?
Aus einem einfachen Grund: beide, Netanyahu und Lieberman, sind davon überzeugt, dass diese Forderung ihre Popularität unter den jüdischen Israelis sprunghaft verstärken würde. Wie kommt das?
Ist diese Öffentlichkeit von einer tiefen inneren Angst erfasst? Benötigt sie eine tägliche Dosis von Beruhigungsmitteln in Form von Anerkennung ihres Staates von Bla-Bla-Bla?
WENN ICH aufgefordert würde, einen Treueschwur auf „den Nationalstaat des jüdischen Volkes“ abzulegen, würde ich respektvoll ablehnen. Vielleicht wird bis dahin ein Gesetz in Kraft treten, das die Staatsbürgerschaft von Israelis streicht, die diese Forderung ablehnen, und ich würde auf den Status eines permanenten Bewohners zurückgestuft, der keine bürgerlichen Rechte hat.
Ich müsste dies verweigern, um eine Lüge zu vermeiden.
Zunächst einmal weiß ich nicht, was das „jüdische Volk“ ist, dem der Staat Israel angeblich gehört. Wer ist damit gemeint? Ein Jude aus Brooklyn, ein Bürger des Nationalstaates des amerikanischen Volkes, der in der US-Marine diente und den amerikanischen Präsidenten wählt? Richard Goldstone, der von den Führern Israels als Lügner und selbsthassender Jude hingestellt wird? Bernard Kouchner, der französische Außenminister, dem in dieser Woche von Lieberman gesagt wurde, er solle in Frankreich das Burka-Problem lösen, statt seine (jüdische) Nase in unsere Angelegenheiten zu stecken.
Und wie würde der Besitz Israels bei diesen Juden selbst zum Ausdruck kommen? Würden sie in der Lage sein, für unsere Regierung zu stimmen (nachdem dieses Recht 1,5 Millionen arabischen Bürgern genommen würde) ? Werden sie die Politik unserer Regierung bestimmen – wie jetzt die jüdischen Milliardäre, Kasino- und Bordellbesitzer, die unsere Zeitungen und Fernsehstationen besitzen und unsere Politiker im Groß- oder Kleinhandel kaufen?
Kein israelisches Gesetz hat je definiert, was „ das jüdische Volk“ ist. Eine religiöse Gemeinschaft? Eine ethnische Gruppe? Eine Rasse? All dieses zusammen? Schließt es all diejenigen ein, die sich zur jüdischen Religion bekennen? Jeder, der eine jüdische Mutter hat? Schließt es einen Nicht-Juden ein, der mit jemandem verheiratet ist, der einen jüdischen Großelternteil hat und deshalb automatisch das Recht hat, sobald er nach Israel kommt, die Staatsbürgerschaft zu bekommen? Wenn hunderttausend Araber morgen zum Judentum konvertieren würden, würde ihnen dann der Staat auch gehören?
Und was mit der Konfusion von „Nation“ und „Volk“? Gehört der Nationalstaat der „Nation“ oder dem „Volk“? Nach welcher wissenschaftlichen oder juristischen Definition? Gehört der deutsche „Nationalstaat“ dem deutschen „Volk“ – zu dem nach einigen – auch Österreicher und die deutsch sprechenden Schweizer gehören?
Wir haben einen Knoten von Konzepten, Termini und semantischen Unklarheiten, einen Knoten, der nicht aufgelöst werden kann.
DER FRÜHERE Justizminister, der verstorbene Yaakov Shimshon Shapira, durch und durch Zionist, sagte mir einmal, dass er als Rechtsberater der Regierung David Ben-Gurion geraten habe, das Rückkehrgesetz nicht zu erlassen, weil er keine Antwort auf die Frage finden könne „wer ist ein Jude?“ Noch schwieriger ist die Antwort auf die Frage: „was ist ein jüdischer Staat?“
Und tatsächlich, was bedeutet dies? Ein Staat, in dem es eine jüdische Mehrheit gibt – etwas, das sich in Zukunft ändern mag? Ein Staat, dessen Sprache hebräisch ist und dessen offizielle Feiertage jüdisch sind? Ein Staat, der den Juden in aller Welt gehört? Ein Staat, dessen Bürger Juden und nur Juden sind? Ein Staat des Transfers und der ethnischen Säuberung? Und wie passen Wörter wie „jüdisch“ und „demokratisch“ zusammen?
Wegen all dieser Fragen hat Israel keine Verfassung. Ohne solch eine Verfassung werden all diese Unklarheiten auf dem Tisch des Obersten Gerichtes landen (nachdem der arabische Richter natürlich entfernt worden ist).
IN DIESER Woche nahm ich an einer Demonstration von Schriftstellern, Künstlern und Intellektuellen in Tel Avivs Rothschild-Boulevard teil, vor dem Gebäude, in dem Ben Gurion am 14. Mai 1948 die Gründung „eines jüdischen Staates im Lande Israel – des Staates Israel“ - verkündete.
Warum „ein jüdischer Staat“? Für Ben Gurion war dies keine ideologische Definition. Er zitierte nur die Resolution der UN-Vollversammlung, die das Land zwischen einem „arabischen Staat“ und einem „jüdischen Staat“ teilte. Die Verfasser der Resolution hatten keinen ideologischen Charakter im Sinn. Sie stellten einfach fest, dass es in diesem Land zwei rivalisierende Volksgruppen gibt – die jüdische und die arabische - und entschieden pragmatisch, das Land zwischen den beiden zu teilen.
Die Demonstration erreichte ihren Höhepunkt, als die Königin des israelischen Theaters, die in Deutschland geborene Hanna Meron, - die 1970 bei einem Angriff durch Issam Sartawi (bevor er Friedensaktivist und ein enger Freund von mir wurde) ein Bein verloren hatte - aus der israelischen Unabhängigkeitserklärung vorlas. Sie erinnerte uns daran, dass die Erklärung das Unternehmen einschloss, dass „der Staat Israel die Entwicklung des Landes zu Gunsten aller seiner Bürger pflegen werde; dass er auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden gegründet werde, wie die Propheten Israels es sich vorgestellt haben; dass vollkommene Gleichheit der sozialen und politischen Rechte aller seiner Einwohner, unabhängig von Religion, Rasse oder Geschlecht sichergestellt werde; dass Freiheit der Religion, des Gewissens, der Sprache, Bildung und Kultur garantiert werde; dass er sich treu an die Prinzipien der UN-Charta halten wolle.“
Es war in der Tat eine traurige Demonstration.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)