Der Frieden zwischen Israel und Palästina ist möglich !!

Uri Avnery vertritt seit 1948 die Idee des israelisch-palästinensischen Friedens und die Koexistenz zweier Staaten: des Staates Israel und des Staates Palästina, mit Jerusalem als gemeinsamer Hauptstadt. Uri Avnery schuf eine Weltsensation, als er mitten im Libanonkrieg (1982) die Front überquerte und sich als erster Israeli mit Jassir Arafat traf. Er stellte schon 1974 die ersten geheimen Kontakte mit der PLO-Führung her.

  • Uri Avnery trifft Jassir Arafat - Foto Uri Avnery 1982

  • Festakt zur Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaille 2008 der Internationalen Liga für Menschenrechte. Von links nach rechts: Mohammed Khatib & Abdallah Aburama (Bürgerkomitee von Bil'in), Rachel Avnery, Fanny-Michaela Reisin (Präsidentin der Liga), Uri Avnery, Adi Winter & Yossi Bartal (Anarchists against the wall) - Foto Michael F. Mehnert CC BY-SA 3.0

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Archiv

Nov 6, 2010

Der Edelmann und das Pferd


„HALB UND HALB,“ habe der verstorbene Ministerpräsident Levi Eshkol geantwortet, als er gefragt worden sei, ob er Tee oder Kaffee wünschte.

 

Dieser Scherz sollte seine zögerliche Haltung am Vorabend des Sechs-Tage-Krieges parodieren. (Übrigens: geheime Dokumente, die in dieser Woche veröffentlicht wurden, zeigen Eshkol in einem sehr anderen Licht.)

 

Die amerikanische Öffentlichkeit ähnelt jetzt dem Mann in dem Witz. Sie sandte nach Washington eine große Gruppe von Tea Party-Typen, aber die Kaffeetrinker im Weißen Haus haben noch immer die Kontrolle darüber.

 

Die israelische Führung weiß nicht, wie sie mit den Ergebnissen dieser Wahl umgehen soll. Sind sie gut für die Juden oder schlecht für die Juden?



Der Edelmann und das Pferd

 

Uri Avnery

 

„HALB UND HALB,“ habe der verstorbene Ministerpräsident Levi Eshkol geantwortet, als er gefragt worden sei, ob er Tee oder Kaffee wünschte.

 

Dieser Scherz sollte seine zögerliche Haltung am Vorabend des Sechs-Tage-Krieges parodieren. (Übrigens: geheime Dokumente, die in dieser Woche veröffentlicht wurden, zeigen Eshkol in einem sehr anderen Licht.)

 

Die amerikanische Öffentlichkeit ähnelt jetzt dem Mann in dem Witz. Sie sandte nach Washington eine große Gruppe von Tea Party-Typen, aber die Kaffeetrinker im Weißen Haus haben noch immer die Kontrolle darüber.

 

Die israelische Führung weiß nicht, wie sie mit den Ergebnissen dieser Wahl umgehen soll. Sind sie gut für die Juden oder schlecht für die Juden?

 

 

DER GROSSE Gewinner der amerikanischen Wahlen ist niemand anders als Binyamin Netanyahu.

 

Seine Politik ist ähnlich der seines politischen Mentor, Yitzhak Shamir. Sie gründet sich auf den Juden, dem gesagt worden war, er müsse dem Pferd eines polnischen Edelmannes innerhalb eines Jahres das Lesen und Schreiben beibringen – sonst würden die Bewohner des ganzen Schtetl ermordet werden. „Ein Jahr ist eine lange Zeit,“ versuchte er, seine weinende Frau zu beruhigen, „Innerhalb eines Jahres wird entweder das Pferd oder der Edelmann gestorben sein.“

 

Shamirs Spiel war es, alles aufzuschieben, jede Gelegenheit zu versäumen, um den Frieden näher zu bringen, Zeit zu gewinnen.

 

Wenn der Druck auf Israel stärker wird, muss man ausweichen, blockieren, täuschen. Früher oder später wird der Edelmann oder das Pferd sterben – und mit etwas Glück gar beide. Die Situation wird sich ändern, der Druck wird weniger, diejenigen, die den Druck ausüben, werden verschwinden. Eine Krisis irgendwo anders auf der Welt wird das Interesse von uns ablenken. Wir werden noch ein Jahr oder zwei gewinnen, und dann werden wir weitersehen.

 

Dies ist auch Netanyahus Strategie. Jeden Schritt in Richtung Frieden verhindern, da Frieden die Evakuierung der Siedlungen und die Errichtung eines palästinensischen Staates bedeutet.

 

Seit zwei Jahren ist es ihm gelungen, jede Bemühung Barack Obamas zu vereiteln, ihn zu zwingen, einen wirklichen Friedensprozess zu beginnen. Er besiegte ihn bei jeder Runde – ein ums andere Mal. Jetzt hat Obama einen scharfen Rückschlag bei sich zu Hause erlitten. Und nun hat ein neues Kapitel begonnen.

 

 

ABER DER Edelmann ist nicht gestorben und das Pferd auch nicht. Wie wird Obama jetzt Netanyahu behandeln?

 

In Jerusalem gibt es zwei sich widersprechende Antworten auf diese Frage.

 

Die erste Beurteilung ist, dass es von Obama nichts mehr zu befürchten gibt. Das Pferd ist zwar nicht gestorben, aber es hinkt sehr.

 

Ein großes Fragezeichen schwebt nun über Obamas Zukunft. Er könnte ein Präsident mit nur einer Amtsperiode werden. Von jetzt an könnte er gezwungen sein, seine ganze Zeit und Kraft dem zu widmen, wieder gewählt zu werden. In solch einer Situation kann er es sich nicht leisten, die AIPAC zu provozieren und das Risiko eingehen, die Stimmen – und das Geld -- der Juden zu verlieren.

 

Nach dieser Beurteilung muss Obama, wenn das Abgeordnetenhaus in den Händen seiner Opponenten ist, sehr sorgfältig sein. Bei internen Angelegenheiten, die die Wahlen entscheiden, wird er nicht in der Lage sein, irgendetwas ohne einen Kompromiss mit den wieder erstarkten Republikanern zu beginnen. Diese werden von Politikern angeführt, die unterwürfige Lakaien Israels sind.

 

Kurz gesagt: von dort ist nichts zu befürchten. Obama kann gegenüber den Palästinensern Gesten machen und sogar seine Muskeln spielen lassen, aber bei wirklich jedem echten Test mit Netanyahu und der AIPAC wird er der erste sein, der kapituliert.

 

Das sichert Netanyahu Ruhe zu. Alles wird eingefroren bleiben, außer dem Siedlungsbau. Der wird weitergehen. Und in zwei Jahren mit einem neuen Präsidenten im Weißen Haus werden wir sehen, was zu tun ist. Ein neuer Edelmann, ein neues Pferd..

 

 

DIE GEGENTEILIGE Beurteilung ist für Netanyahu weniger rosig.

 

Zweifellos ist Obama wütend auf Netanyahu, und seine Wut mag jetzt in wirkliche Abscheu umgeschlagen sein. In den letzten Tagen vor dieser Wahl verweigerte Netanyahu Obama auch noch den kleinen Sieg, der sein Image noch im letzten Augenblick aufgebessert hätte. Obama bat – nein, bettelte – um nichts anderes als um das Einfrieren des Siedlungsbaus um zwei weitere Monate: nur um ein großes Spektakel der Wiederaufnahme des Friedensprozesses möglich zu machen. Netanyahu wies den Wunsch verächtlich zurück, obwohl er von einem Angebot einer riesigen politischen Bestechung begleitet war.

 

Obama ist ein Mann, der seine Emotionen voll unter Kontrolle hat. Er wird weiter Netanyahu zulächeln, ihm vielleicht sogar einen Klaps auf den Rücken geben. Aber ein Feind im Weißen Haus ist ein gefährlicher Feind und ein verletzter Feind ist sogar noch gefährlicher. Ein verletzter oder nicht verletzter amerikanischer Präsident ist immer noch die mächtigste Person auf der Welt.

 

Die kommende Präsidentenwahl wirft zwar schon einen langen Schatten über Washington. Aber der Anfang der ernsten Wahlkampagne ist noch ein Jahr entfernt, und dieses Jahr könnte die Gelegenheit für eine entschlossene amerikanische Friedensinitiative werden. Der geschlagene Präsident mag seinen Wählern einen eindrucksvollen Erfolg in der internationalen Arena zeigen, und ein historisches Friedensabkommen zwischen Israel und Palästina würde solch einen Erfolg darstellen.

 

Und selbst wenn dies nicht passiert, wird nach dem November 2012 für Netanyahu eine ernsthaftere Gefahr lauern. Obama kann wieder gewählt werden. Einige seiner Vorgänger – Ronald Reagan und Bill Clinton - erlitten bei ihren ersten Zwischenwahlen schwere Niederlagen und hatten kein Problem, wieder gewählt zu werden.

 

Falls Obama für eine zweite Amtszeit wieder gewählt wird, könnte er ein sehr gefährlicher Gegner werden. Da er danach nicht noch einmal gewählt werden kann, wird ihm der Druck der Israel Lobby gleichgültig sein. Er wird über seinen Platz in der Geschichte nachdenken. Und zweifellos würde das Erreichen eines Friedens zwischen Israel und Palästina ein historischer Erfolg sein.

 

Außerdem kann die Tea-Party so schnell verschwinden, wie sie gekommen ist. So etwas geschieht in den USA alle paar Jahrzehnte: eine Welle von Wahnsinn schwappt wie ein Tsunami über das Land und verschwindet, als hätte es ihn nicht gegeben. Man erinnere sich an Joe McCarthy. Wenn die Welle bis 2012 weitergeht und Obama sich jemandem wie Sarah Palin gegenübersieht, könnte er sich nichts Besseres wünschen

 

Und der Congress: so weit es Israel betrifft, macht da keinen Unterschied. Die Senatoren und Kongressabgeordneten tanzen nach der Pfeife der Israel-Lobby. In dieser Hinsicht gibt es keinen Unterschied zwischen Demokraten und Republikanern. Das „überschreitet Parteigrenzen“, wie einer der Lobbyführer vor kurzem prahlte.

Kurz gesagt: nach dieser Beurteilung ist ein Zusammenstoß zwischen Obama und Netanyahu unvermeidlich. Es wird sich innerhalb von höchstens zwei oder drei Jahren zuspitzen. Der Edelmann wird nicht sterben, auch nicht das Pferd. Die Frage ist nur, ob der Jude dies überleben wird.

 

 

DIESER PERSÖNLICHE Zusammenprall verbirgt einen viel fundamentaleren.

Es gibt eine Menge Geschwätz über die Partnerschaft der beiden Länder. Über die gemeinsamen Mythen der Pioniere, Kampf gegen die Einheimischen, Eroberung einer neuen Heimat, einer Nation von Immigranten. Über „gemeinsame Werte“.

 

All das erinnert mich an Shimon Peres Geschwätz in den 50er-Jahren über die gemeinsamen Werte, die Frankreich an Israel banden. Die gemeinsamen Werte lösten sich in dem Augenblick auf, als Frankreich mit den algerischen Rebellen Frieden schloss. Die französischen Interessen veränderten sich über Nacht. Wie Charles de Gaulle sagte: „Frankreich hat keine Freunde. Frankreich hat nur Interessen.“

 

Auch die USA haben Interessen und ihre Freundschaften sind vorübergehend. Im Außenministerium und im Pentagon wissen die Experten, dass die gegenwärtige israelische Politik im Gegensatz zu den grundsätzlichen amerikanischen Nationalinteressen liegen. Dieses Wissen findet seinen Ausdruck in einer wachsenden Anzahl von Büchern früherer ranghoher Offizieller und Akademiker als auch in den Reden bedeutender Militärs. Vor kurzem fand es seinen Ausdruck in einem außergewöhnlichen Leitartikel in der New York Times, nachdem die Redakteure dieses Land besucht hatten. Und dies in einer Zeitung, die Antisemiten die Jew York Times nennen.

 

Die USA sind in zwei teure Kriege in muslimischen Ländern (im Irak und Afghanistan ) verwickelt und in einer schweren Krise mit einem dritten muslimischen Land (Iran). Im ganzen „ausgedehnten Nahen Osten“ befinden sich ihre Verbündeten im Abstieg, während ihre Opponenten im Aufstieg begriffen sind.

 

Die Opponenten sind ein gemischter Haufen: der Iran ist ein religiös schiitisches Land. Die Türkei ist eine sunnitisch säkulare Republik; Syrien ist ein sunnitisches Land, das von einer kleinen alawitischen Sekte beherrscht wird, deren islamische Identität von Sunniten wie von Schiiten angezweifelt wird. Die Hisbollah ist fanatisch schiitisch, die Hamas ist fanatisch sunnitisch. Da gibt es nicht viel, das allen gemeinsam ist - außer ihrer Opposition zum status quo in der Region.

 

Fast alle Experten glauben, dass die unbegrenzte amerikanische Unterstützung Israels der Hauptgrund für die islamische anti-amerikanische Welle ist. Die meisten sprechen nicht offen darüber, weil die Furcht vor der Israel Lobby das ganze amerikanisch politische Establishment durchzieht. Aber selbst die erschreckendste Lobby kann nicht auf Dauer der unerbittlichen Logik nationaler Interessen widerstehen.

 

ETWAS WAHNSINNIGES liegt in dieser Situation: unsere Regierung eilt leichtsinnig auf einen Konflikt mit dem einzig verbliebenen Verbündeten, den wir in der Welt haben, zu. Kein anderer potentieller Verbündeter kann am Horizont entdeckt werden.

 

Dies ist allein schon eine bedrohliche Tatsache, weil die amerikanische Großmacht langsam aber stetig auf allen Gebieten abnimmt – wirtschaftlich, politisch, militärisch und kulturell. Dies ist ein langwieriger Prozess, der viele Jahre dauern kann, aber Israel sollte für neue Machtzentren bereit sein. Die Netanyahu-Regierung macht genau das Gegenteil: sie fordert die ganze Welt heraus und handelt konsequent daran, Israel zu isolieren.

Anders als die Geschichte vom Juden, dem Edelmann und dem Pferd ist dies hier kein Scherz.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)