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Der Krieg der Lügen
IN DIESER Woche sind es 30 Jahre her, dass die israelische Armee die Grenze zum Libanon überquerte und den dümmsten Krieg in Israels Geschichte begann. Er dauerte 18 Jahre. Über 1500 israelische Soldaten und unzählige Libanesen und Palästinenser wurden getötet.
Fast alle Kriege sind auf Lügen gebaut. Lügen werden als legitime Instrumente des Krieges angesehen. Der 1. Libanonkrieg (wie er später genannt wurde) war ein ruhmreiches Beispiel.
Vom Anfang bis zum Ende (falls er je geendet hat) war er ein Krieg der Täuschung und des Betruges, der Unwahrheit und der Lügenmärchen.
Uri Avnery
IN DIESER Woche sind es 30 Jahre her, dass die israelische Armee die Grenze zum Libanon überquerte und den dümmsten Krieg in Israels Geschichte begann. Er dauerte 18 Jahre. Über 1500 israelische Soldaten und unzählige Libanesen und Palästinenser wurden getötet.
Fast alle Kriege sind auf Lügen gebaut. Lügen werden als legitime Instrumente des Krieges angesehen. Der 1. Libanonkrieg (wie er später genannt wurde) war ein ruhmreiches Beispiel.
Vom Anfang bis zum Ende (falls er je geendet hat) war er ein Krieg der Täuschung und des Betruges, der Unwahrheit und der Lügenmärchen.
DIE LÜGEN begannen mit dem offiziellen Namen: „Operation Frieden in Galiläa“.
Wenn man heute Israelis fragt, dann würden 99,9% von ihnen allen Ernstes sagen: „Wir hatten keine andere Wahl. Jeden Tag schossen sie vom Libanon Katjuschas nach Galiläa. Wir mussten sie stoppen.“ Fernsehmoderatoren und -moderatorinnen wie auch frühere Kabinettsminister wiederholten dies – ganz ernsthaft - während der ganzen letzten Woche. Sogar Leute, die zu jener Zeit erwachsene Bürger waren.
Die einfache Tatsache ist, dass elf Monate lang vor dem Krieg kein einziger Schuss über die israelisch-libanesische Grenze abgefeuert wurde. Ein Waffenstillstand war in Kraft, und die Palästinenser auf der andern Seite der Grenze hielten ihn gewissenhaft ein. Zu jedermanns Überraschung gelang es Yassir Arafat, ihn auch allen radikalen Fraktionen aufzuerlegen.
Ende Mai 1982 traf sich der Verteidigungsminister Ariel Sharon mit dem Außenminister der USA Alexander Haig in Washington DC. Er bat um amerikanisches Einverständnis, in den Libanon einzufallen. Haig sagte, dass die USA dies nicht erlauben könne, wenn es nicht eine klare und international anerkannte Provokation gäbe.
Und siehe da, die Provokation wurde sofort geliefert. Abu Nidal, der Anti-Arafat- und Anti-PLO-Meisterterrorist, sandte seinen eigenen Cousin, um den israelischen Botschafter in London zu ermorden. Dieser wurde nur ernsthaft verletzt.
Aus Rache bombardierte Israel Beirut, und die Palästinenser schossen – wie erwartet – zurück.
Ministerpräsident Menachem Begin erlaubte Sharon, bis zu 40km in libanesisches Gebiet vorzudringen, um die Siedlungen in Galiläa außerhalb der Schusslinie der Katjuschas zu halten.
Als einer der Nachrichtenchefs Begin beim Kabinett-Treffen erklärte, dass Abu Nidals Organisation kein Mitglied der PLO sei, antwortete Begin mit dem berüchtigten Wort: „Sie sind alle PLO“.
General Matti Peled, zu jener Zeit mein politischer Verbündeter, glaubte fest, Abu Nidal habe als Agent von Sharon gehandelt. Das glaubten auch alle Palästinenser, die ich kenne.
Die Lüge „ sie schossen jeden Tag auf uns“, hat sich in der öffentlichen Meinung so gehalten, dass es heute sinnlos ist, darüber zu disputieren. Es ist ein aufschlussreiches Beispiel, wie ein Mythos Besitz von der öffentlichen Meinung nimmt, einschließlich der Leute, die erlebt haben, dass das Gegenteil der Fall ist.
NEUN MONATE vor dem Krieg erzählte Sharon mir von seinem Plan für einen neuen Nahen Osten.
Ich schrieb einen langen biographischen Artikel über ihn in Zusammenarbeit mit ihm. Er war von meiner journalistischen Integrität überzeugt, also erzählte er mir seinen Plan „ganz im Vertrauen“ und erlaubte mir, ihn zu veröffentlichen, aber ohne ihn zu zitieren. Das tat ich auch.
Sharon war eine gefährlich psychische Mischung: eine primitive Gesinnung, unberührt von irgendeiner Kenntnis von Geschichte – außer der jüdischen - und ein fatales Verlangen nach großen Plänen. Er verachtete alle Politiker – einschließlich Begin - als kleine Leute, die keine Visionen und Phantasie haben.
Sein Plan für die Region war, wie er mir erzählte (und wie ich es neun Monate vor dem Krieg veröffentlichte):
(1) den Libanon angreifen und dort einen christlichen Diktator einsetzen, der Israel dienen würde;
(2) die Syrer aus dem Libanon treiben;
(3) die Palästinenser aus dem Libanon nach Syrien vertreiben, von wo sie dann von den Syrern nach Jordanien weiter getrieben würden;
(4) die Palästinenser dahin zu bringen, dass sie in Jordanien eine Revolution ausführen, König Hussein absetzen und aus Jordanien einen palästinensischen Staat machen würden;
(5) ein funktionales Abkommen schließen, nach dem der palästinensische Staat (in Jordanien) die Machtfunktion in der Westbank mit Israel teilen würde.
Da er ein zielbewusster Unternehmer war, überzeugte Sharon Begin, den Krieg zu beginnen und sagte zu ihm, es sei sein einziges Ziel, die PLO 40km weit zurück zu treiben. Dann setzte er Bashir Gemayel als Diktator des Libanon ein. Dann ließ er die christlichen Phalangisten das Massaker in Sabra und Shatila ausführen, um die Palästinenser zu terrorisieren, damit sie nach Syrien fliehen.
Die Folgen des Krieges waren das Gegenteil von seinen Erwartungen. Bashir wurde von den Syrern getötet, und sein Bruder, der dann durch israelische Kanonen gewählt wurde, war ein unfähiger Schwächling. Die Syrer stärkten ihre Macht über den Libanon. Das schreckliche Massaker brachte die Palästinenser nicht dazu, zu fliehen. Sie rührten sich nicht von der Stelle. Hussein blieb auf seinem Thron, Jordanien wurde nicht Palästina. Arafat und seine bewaffneten Männer wurden nach Tunis evakuiert, wo sie eindrucksvolle politische Siege errangen, als die „einzigen Vertreter der palästinensischen Volkes“ anerkannt wurden und schließlich nach Palästina zurückkehrten .
DER MILITÄRISCHE Plan ging von Anfang an schief, genau wie der politische. Da der Krieg in Israel als ein ruhmreicher militärischer Sieg gefeiert wurde, wurde keine militärische Lektion aus ihm gezogen – so dass der 2. Libanonkrieg etwa 24 Jahre später ein um so größeres militärisches Desaster wurde.
Die einfache Tatsache ist, dass 1982 keine Einheit der Armee ihr Ziel erreicht hat oder ihr Ziel nicht zur rechten Zeit erreicht hat. Kühner palästinensischer Widerstand in Sidon (Saida) hielt die Armee auf, und Beirut war außer Reichweite, als eine Feuerpause erklärt wurde. Sharon brach sie einfach, und erst dann gelang es den Truppen, die Stadt einzukreisen und sie von der östlichen Seite zu betreten.
Im Gegensatz zu seinem Versprechen gegenüber Begin (mir gegenüber von einem sehr ranghohen Koalitionspartner wiederholt) griff Sharon die syrische Armee an, um die Beirut-Damaskus-Straße zu erreichen und abzuschneiden. Die israelischen Einheiten an dieser Front erreichten niemals diese wichtige Straße, sondern erlebten eine überwältigende Niederlage bei Sultan Yaakub.
Kein Wunder. Der Stabschef war Rafael Eitan, Raful genannt. Er war von Sharons Vorgänger Ezer Weizman ernannt worden. Zu jener Zeit fragte ich Weizman, warum er so einen Idioten ernannt hätte. Seine typische Antwort war: „Ich habe genug IQ für uns beide. Er wird meine Befehle ausführen.“ Aber Weizman trat zurück, und Raful blieb.
EINER DER bedeutendsten und dauerhaften Ergebnisse des 1. Libanonkrieges betrifft die Schiiten.
Von 1949 bis 1970 war die libanesische Grenze die ruhigste von allen unsern Grenzen. Leute überquerten versehentlich die Grenze und wurden zurück gebracht. Allgemein wurde gesagt, dass „der Libanon der 2. arabische Staat sein wird, mit dem Israel Friede machen wird“, weil er es nicht wage, der erste zu sein.
Die Bevölkerung auf der andern Seite der Grenze war vor allem schiitisch, damals die unterdrückteste und machtloseste von Libanons verschiedenen ethnish-religiösen Kommunen. Als König Hussein mit Israels Hilfe die PLO-Kräfte im Schwarzen September 1970 vertrieb, richteten sich die Palästinenser im Südlibanon ein und wurden dort die Herrscher der Grenzregion, die in Israel bald als „Fatahland“ bekannt wurde.
Die meistens schiitische Bevölkerung liebte ihre neuen palästinensischen Herren nicht, die Sunniten waren. Als Sharons Soldaten das Gebiet betraten, wurden sie tatsächlich mit Reis und Süßigkeiten empfangen (Ich sah es mit eigenen Augen). Die Schiiten, die Israel nicht kannten, glaubten, dass ihre Befreier die Palästinenser vertreiben und dann nach Hause gehen würden.
Sie brauchten nicht lange, um ihren Irrtum einzusehen. Sie begannen dann einen Guerillakrieg, für den die israelische Armee völlig unvorbereitet war.
Die schiitischen Mäuse verwandelten sich schnell in schiitische Löwen. Angesichts dieser Guerillas entschloss sich die israelische Regierung, Beirut und einen großen Teil des Süd-Libanon zu verlassen und sich auf eine „Sicherheitszone“ zurück zu ziehen, die, wie erwartet, zu einem Guerilla-Schlachtfeld wurde. Die moderaten Schiiten wurden durch die neue radikalere neue Hisb-allah (Partei Gottes) ersetzt, die schließlich die politische und militärische Hauptkraft im ganzen Libanon wurde.
Um sie zu stoppen, ermordete Israel ihren Führer Hassan al-Mussawi, der prompt durch einen weit begabteren Assistenten – Hassan Nasrallah ersetzt wurde.
Zur selben Zeit begannen Sharons Doppelgänger in Washington einen Krieg, der den Irak zerstörte, das historische arabische Bollwerk gegen den Iran. Eine neue Achse des schiitischen Irak, Hisbollah und das alawitische Syrien wurden eine dominante Tatsache. (Die Alawiten, die Assads Syrien beherrschen, sind eine Art Schiiten. Ihr Name kommt von Ali, dem Schwiegersohn des Propheten, dessen Nachkommen von den Sunniten zurückgewiesen und von den Schiiten akzeptiert wurden).
Wenn Sharon aus seinem Koma aufwachen sollte, das seit den letzten sechs Jahren sein Schicksal gewesen ist, wäre er von diesem Ergebnis geschockt – das einzig praktische – seines Libanonkrieges.
EINES DER Kriegsopfer war Menachem Begin.
Viele Legenden wurden um sein Gedenken gewoben. Begin hatte viele ausgezeichnete Qualitäten. Er war ein Mann von Prinzipien, ehrenhaft und hatte persönlichen Mut. Er war auch ein großer Redner in der europäischen Tradition, fähig die Emotionen seiner Zuhörer zu wecken.
Aber Begin war ein sehr mittelmäßiger Denker, vollkommen ohne originelle Gedanken. Sein Mentor Vladimir Jabotinsky behandelte ihn mit Herablassung. Er war auf seine Weise naiv. Er ließ sich leicht von Sharon täuschen. Er widmete sich zielstrebig der Niederlage der Palästinenser und dem Versuch, die Herrschaft des „jüdischen Staates“ über das ganze historische Palästina auszudehnen, kümmerte sich darum nicht wirklich um den Libanon, den Sinai oder die Golanhöhen.
Sein Verhalten während des Libanonkrieges grenzte ans Lächerliche. Er besuchte die Soldaten und stellte Fragen, die zur Zielscheibe von Witzen unter den Soldaten wurden. Im Nachhinein fragt man sich, ob er schon zu dieser Zeit psychisch krank war. Bald nach dem Sabra und Shatila-Massaker, das ihn zutiefst schockierte, zog er sich in tiefe Depressionen zurück, die noch bis zu seinem Tod nach zehn Jahren andauerte.
DIE MORAL von der Geschichte ist noch immer relevant:
Jeder Tor kann einen Krieg beginnen, nur eine sehr weise Person kann einen verhindern.
(Aus dem Englischen Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)