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Über Bomben und Comics
MEINE ERSTE Reaktion auf Benjamin Netanjahus Vorstellung von Comics bei der UN-Vollversammlung war Scham.
Scham darüber, dass der oberste Vertreter meines Landes sich zu so einem primitiven rhetorischen Kunstgriff herablässt, den man fast kindisch nennen könnte.
(Ein israelischer Kommentator schlug vor, ihn mit einer Menge Papier und Tusche auf einen Teppich zu setzen, wo er nach Herzenslust malen könne.)
Über Bomben und Comics
Uri AvneryMEINE ERSTE Reaktion auf Benjamin Netanjahus Vorstellung von Comics bei der UN-Vollversammlung war Scham.
Scham darüber, dass der oberste Vertreter meines Landes sich zu so einem primitiven rhetorischen Kunstgriff herablässt, den man fast kindisch nennen könnte.
(Ein israelischer Kommentator schlug vor, ihn mit einer Menge Papier und Tusche auf einen Teppich zu setzen, wo er nach Herzenslust malen könne.)
MEINE ERSTE Reaktion auf Benjamin Netanjahus Vorstellung von Comics bei der UN-Vollversammlung war Scham.
Scham darüber, dass der oberste Vertreter meines Landes sich zu so einem primitiven rhetorischen Kunstgriff herablässt, den man fast kindisch nennen könnte.
(Ein israelischer Kommentator schlug vor, ihn mit einer Menge Papier und Tusche auf einen Teppich zu setzen, wo er nach Herzenslust malen könne.)
Er sprach vor einer halbleeren Halle (das israelische Fernsehen zeigte während seiner Rede vorsichtshalber nicht die ganze Halle), und die Zuhörerschaft bestand aus zweitklassigen Diplomaten, aber diese waren noch gut erzogene Leute. Selbst Netanjahu muss es klar gewesen sein, dass sie diese Schaustellung verachteten. Aber Netanjahu sprach gar nicht zu ihnen. Er redete mit der jüdischen Zuhörerschaft zu Hause in Israel und in den USA.
DIESE ZUHÖRERSCHAFT war stolz auf ihn. Es gelang ihm, ihre tiefsten Gefühle anzusprechen.
Um dies zu verstehen, muss man auf historische Erinnerungen zurückgreifen. Juden waren überall eine kleine, hilflose Gemeinschaft. Sie waren vollkommen vom nicht-jüdischen Herrscher abhängig.
Wann immer ihre Lage in Gefahr war, wählten die Juden die prominenteste Person aus ihren Reihen, um ihr Problem vor den Herrscher, den König oder Fürsten, zu bringen. Wenn dieser „Fürsprecher“ ( auf hebräisch Shetadlan) erfolgreich und die Gefahr abgewendet war, gewann er die Bewunderung der ganzen Gemeinde. In einigen Fällen erinnerte man sich noch Generationen lang an ihn wie an den mythischen Mordechai im biblischen Buch „Esther“.
Netanjahu erfüllte diese Funktion. Er ging direkt ins Zentrum der nicht-jüdischen Macht, das heutige Äquivalent des persischen Kaisers, und vertrat die Sache der Juden, die mit Vernichtung durch den gegenwärtigen Erben Hamans des Bösen, bedroht werden . (s. auch Buch „Esther“)
Und was für eine geniale Idee, die Zeichnung mit der Bombe vorzuzeigen! Sie wurde auf den ersten Seiten von Hunderten von Zeitungen und Nachrichtenprogrammen im Fernsehen rund um die Welt gezeigt, einschließlich der New York Times!
Für Netanjahu war dies „die Rede seines Lebens“. Um genau zu sein, wie ein TV-Kommentator trocken hinwies: es war die 8.Rede seines Lebens vor der UN-Vollversammlung.
Seine Popularität sprang in neue Höhen. Moses selbst, der höchste Fürsprecher am Hof des Pharao, hätte es nicht besser machen können.
DIE CRUX der Sache lag aber irgendwo verborgen zwischen dem Schwall von Worten.
Der „unvermeidliche“ Angriff auf Irans nukleare Einrichtungen, um einen zweiten Holocaust zu verhindern, wurde auf das nächste Frühjahr oder den Sommer verschoben. Nach der monatelangen
Drohung, dass der tödliche Angriff kurz bevorstehe, jede Minute gar - es war keine Minute zu versäumen - verschwand im Nebel der Zukunft.
Warum? Was war geschehen?
Nun ja, ein Grund war die Umfrage, die anzeigte, dass Barack Obama wieder gewählt werden könnte. Netanjahu hatte beharrlich alle seine Karten auf Mitt Romney, seinen ideologischen Klon, gesetzt. Aber Netanjahu glaubt auch bedingungslos an Umfragen. Es scheint, dass seine Berater ihn davon überzeugt haben, auf Nummer sicher zu gehen. Der üble Obama mag trotz Sheldon Adelsons Millionen gewinnen. Besonders jetzt, nachdem der Milliardär George Sorros sein Geld auf den amtierenden Präsidenten gesetzt hat.
Netanjahu hatte die brillante Idee, den Iran direkt vor den US-Wahlen anzugreifen. Er hoffte, dass die Hände aller amerikanischen Politiker gebunden sein würden. Wer würde es wagen, zu diesem Zeitpunkt Israel zurück zu halten? Wer würde sich weigern, Israel zu helfen, wenn die Iraner zurückschlagen?
Aber wie so viele von Netanjahus brillanten Ideen, so ist auch diese ein Flop. Obama hat Netanjahu in klaren Worten gesagt: Kein Angriff vor den Wahlen - oder …
DER NÄCHSTE Präsident der USA – wer immer es sein mag – wird Netanjahu genau dasselbe auch nach den Wahlen sagen.
Wie ich schon früher gesagt habe (man möge mich entschuldigen, dass ich mich wieder selbst zitiere), ein militärischer Angriff auf den Iran kommt nicht in Frage. Der Preis ist unerträglich hoch. Die geographischen, wirtschaftlichen und militärischen Fakten wirken zusammen, um dies zu verhindern. Die Meerenge von Hormuz würde geschlossen werden, die Weltwirtschaft würde zusammenbrechen, ein langer und verheerender Krieg wäre die Folge.
Selbst wenn Mitt Romney an der Macht wäre, umgeben von einer Menge von Neo-Cons würde es kein bisschen diese Fakten ändern.
Obamas Sache wird durch die aus dem Iran kommenden wirtschaftlichen Nachrichten sehr gestärkt. Die internationalen Sanktionen haben erstaunliche Ergebnisse. Die Skeptiker – von Netanjahu angeführt – werden widerlegt.
Im Gegensatz zu den anti-islamischen Karikaturen ist der Iran ein normales Land mit einer normalen Mittelklasse und Bürgern mit hohem politischem Bewusstsein. Sie wissen, dass Mahmoud Achmadinejad ein Tor ist. ( Falls er tatsächlich eine Atombombe produzieren wollte, hätte er dann wirklich all diese idiotischen Reden über Israel und/oder den Holocaust gehalten? Hätte er dann nicht eher seinen Mund gehalten und im Stillen hart gearbeitet ?) Aber da er sowieso weggeht, braucht man gerade jetzt keine Revolution machen.
Das praktische Ergebnis: Tut mir leid: kein Krieg.
DIE GANZE Affäre bringt uns wieder auf die Walt-Mearsheimer-Kontroverse. Kontrolliert Israel die US-Politik? Wedelt der Schwanz mit dem Hund?
Zu einem sehr großen Teil ist dies zweifellos der Fall. Es genügt, der gegenwärtigen Wahlkampagne zu folgen und wahrzunehmen, wie beide Kandidaten mit der israelische Regierung in unterwürfiger Weise umgehen, mit einander konkurrieren, wer den andern mit schmeichelnden Worten und Unterstützung übertrifft.
Jüdische Stimmen spielen eine bedeutende Rolle in Pendelstaaten, und jüdisches Geld spielt eine große Rolle bei der Finanzierung beider Kandidaten (O tempora- o mores! Es gab einmal einen jüdischen Witz: Ein polnischer Edelmann bedrohte seinen benachbarten Edelmann: „Wenn du meinen Juden schlägst, werde ich deinen Juden schlagen!“ Jetzt bedroht ein jüdischer Milliardär einen andern jüdischen Milliardär: Wenn du deinem Goi eine Million schenkst, gebe ich meinem Goi eine Million!“)
Die Nahost-Politik des Obama-Regierungsstabes ist von zionistischen Juden besetzt bis zum US-Botschafter in Tel Aviv, der ausgezeichnet Hebräisch spricht. Dennis Ross, der den Nahost-Friedens begrub, scheint überall zu sein. Romney’s Neo-Cons sind auch meistens Juden.
Juden haben einen sehr großen Einfluss - bis zu einem gewissen Punkt. Dieser Punkt ist extrem wichtig.
Ein kleines Beispiel: Jonathan Pollard, der amerikanisch-jüdische Spion, bekam eine lebenslängliche Gefängnisstrafe. Viele Leute (einschließlich meiner selbst) halten diese Strafe für ungebührlich hart. Doch kein Amerikaner wagte zu protestieren, auch AIPAC verhielt sich ruhig, und kein amerikanischer Präsident wurde von israelischem Ersuchen zur Milde umgestimmt. Das für die Sicherheit zuständige US-Establishment sagte nein, und dabei blieb es.
Der Krieg gegen den Iran ist eine Million mal bedeutender. Er betrifft lebenswichtige amerikanische Interessen. Das amerikanische Militär ist dagegen (wie auch das israelische Militär). Jeder in Washington DC weiß, dass dies keine Nebensache ist. Es berührt die eigentliche Basis der amerikanischen Macht in der Welt.
Und wer hätte das gedacht: die USA sagen gegenüber Israel „Nein“. Der Präsident sagt kühl, in Sachen lebenswichtiger Sicherheitsinteressen kann kein fremdes Land den US-Chef-Kommandeur zwingen, rote Linien ziehen und ihn selbst in einen Krieg ziehen . Nicht einmal mit Hilfe von Zeichnungen aus einem Comicbuch.
Die Israelis sind entsetzt. Was? Wir, das von Gott erwählte Volk, sind Fremde? Genau wie andere Ausländer?
Dies ist eine sehr wichtige Lektion. Wenn sich die Dinge zuspitzen, dann ist der Hund ein Hund und der Schwanz noch immer ein Schwanz.
WAS IST es also mit Netanjahus Iran- Engagement?
Vor kurzem wurde ich von einem ausländischen Journalisten gefragt, ob Netanjahu die Beendigung der militärischen Option gegen den Iran überleben wird, nachdem er monatelang über nichts anderes geredet hat. Wie ist es mit dem iranischen Hitler? Was ist mit dem bevorstehenden Holocaust?
Ich sagte zu ihm, er solle sich darüber keine Sorgen machen. Netanjahu kann leicht damit fertig werden, indem er erklärt, die ganze Sache sei eine List gewesen, damit die Welt strengere Sanktionen gegen den Iran verhänge.
Aber war es das?
Einflussreiche Leute in Israel sind in zwei Gruppen geteilt, die zwei Meinungen vertreten.
Das erste Lager macht sich Sorgen, dass unser Ministerpräsident wirklich übergeschnappt sei. Dass er von der Idee Iran besessen sei, vielleicht krankhaft unausgewogen, dass der Iran für ihn zu einer fixen Idee wurde.
Das andere Lager ist davon überzeugt, dass die ganze Sache von Anfang an ein Trick war, um unsere Aufmerksamkeit von dem einen Problem abzulenken, mit dem wir uns wirklich befassen sollten: Frieden mit den Palästinensern.
Darin war er sehr erfolgreich. Seit Monaten stand Palästina weder auf Israels Agenda noch auf der der Welt. Palästina? Frieden? Was für ein Palästina? Was für ein Frieden? Und während die Welt auf den Iran wie ein hypnotisiertes Kaninchen auf die Schlange starrt, werden Siedlungen vergrößert und die Besatzung verstärkt – und wir segeln stolz auf eine Katastrophe zu.
Und das ist keineswegs eine Geschichte aus einem Comicbuch.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)