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Ihre Mütter, ihre Väter
ES IST der Sommer 1941. Fünf junge Menschen – drei junge Männer und zwei junge Frauen – treffen sich in einer Bar und verbringen einen fröhlichen Abend, flirten mit einander, werden betrunken, tanzen verbotene ausländische Tänze. Sie sind zusammen im selben Berliner Stadtteil aufgewachsen.
So beginnt der Film, der gerade in unsern Kinos läuft – ein einzigartiges historisches Dokument. Er läuft fünf atemlose Stunden und beschäftigt die Gedanken und Gefühle seiner Zuschauer noch tage- und wochenlang.
Im Grunde ist es ein Film, der von Deutschen für Deutsche gedreht wurde. Der deutsche Titel sagt alles „Unsere Mütter, unsere Väter“. Der Zweck ist, die Fragen zu beantworten, die heute noch junge Deutsche beunruhigen. „Wer waren unsere Eltern und Großeltern? Was taten sie während dieses schrecklichen Krieges? Was empfanden sie? Waren sie an den schrecklichen Verbrechen beteiligt, die von den Nazis begangen wurden?
Diese Fragen werden im Film nicht deutlich beantwortet. Aber jeder deutsche Zuschauer ist gezwungen, sie zu stellen. Es gibt keine klaren Antworten. Der Film ergründet es nicht. Eher zeigt er ein breites Panorama des deutschen Volkes in Kriegszeiten, die verschiedenen Teile der Gesellschaft, die verschiedenen Typen von Kriegsverbrechern, passive Zuschauer bis zu den Opfern.
Der Holocaust steht nicht im Mittelpunkt der Ereignisse, ist aber ständig anwesend, nicht als ein besonderes Ereignis, sondern als Teil in die Struktur der Realität verwoben
DER FILM beginnt 1941 und deshalb kann die Frage, die für mich die wichtigste wäre, nicht beantwortet werden. Wie kann eine zivilisierte, vielleicht die kultivierteste Nation in der Welt eine Regierung wählen, deren Programm offensichtlich kriminell war.
Es stimmt, Hitler wurde niemals von einer absoluten Mehrheit in freien Wahlen gewählt. Aber er kam sehr nah dran. Und er fand leicht politische Partner, die bereit waren, ihm zu helfen, eine Regierung zu bilden.
Einige sagten damals: es sei ein einzigartiges deutsches Phänomen gewesen, der Ausdruck besonderer deutscher Mentalität, während Jahrhunderten der Geschichte geformt. Diese Theorie ist bis jetzt diskreditiert worden. Aber wenn es so ist, kann es in einem andern Land geschehen? Könnte es in unserm Land geschehen? Kann es heute geschehen? Welches sind die Umstände, die das ermöglichen?
Der Film gibt keine Antwort auf diese Fragen. Er überlässt die Antworten dem Zuschauer.
Die jungen Helden des Filmes fragen nicht. Sie waren 10 Jahre alt, als die Nazis zur Macht kamen, und für sie war das „1000-Jährige Reich“ (Wie die Nazis es nannten) die einzige Realität, die sie kannten. Es war der natürliche Zustand der Dinge. So beginnt die Handlung.
ZWEI DER Jugendlichen waren Soldaten. Einer hatte den Krieg schon gesehen und trug einen Orden für Tapferkeit. Sein Bruder war gerade eingezogen worden. Der dritte junge Mann war ein Jude. Wie die beiden Mädchen waren sie voll jugendlichen Überschwangs. Alles sah gut aus.
Der Krieg? Nun, er kann nicht mehr lange dauern, oder? Der Führer selbst hat versprochen, dass bis Weihnachten der Endsieg gewonnen sein wird. Die fünf jungen Leute versprachen einander, sich an Weihnachten wieder zu treffen. Keiner hatte die leiseste, böse Vorahnung der schrecklichen Erfahrungen, die jedem bevorstanden.
Während ich diese Szene sah, konnte ich nicht anders, als an meine frühere Klasse denken. Ein paar Wochen nach der Machtübernahme der Nazis wurde ich ein Schüler der 1. Klasse des Gymnasiums. Meine Mitschüler waren gerade so alt, wie die Helden im Film, Sie sind 1941 eingezogen worden, und da es eine Eliteschule war, sind wahrscheinlich alle Offiziere geworden.
Nach einem halben Jahr im Gymnasium, nahm mich meine Familie mit nach Palästina. Niemals traf ich einen meiner Klassenkameraden wieder, außer einem (Rudolf Augstein, den Gründer des Magazins Der Spiegel; Ich traf ihn Jahre nach dem Krieg, und er wurde wieder mein Freund) Was geschah mit allen anderen? Wie viele überlebten den Krieg? Wie viele waren zu Krüppeln geworden? Wie viele waren zu Kriegsverbrechern geworden?
Im Sommer 1941 waren sie wahrscheinlich noch so glücklich wie die Jugendlichen im Film, die hofften Weihnachten wieder zu Hause zu sein.
DIE BEIDEN Brüder wurden an die russische Front geschickt, eine unvorstellbare Hölle. Dem Film gelingt es, die Realitäten des Krieges zu zeigen, leicht erkennbar von jemandem, der auch ein Soldat im Kampf war. Nur dass dieser Kampf hier hundertmal schlimmer war, und der Film zeigt dies brillant.
Der ältere Bruder, ein Oberstleutnant, versuchte, den Jüngeren zu schützen. Das Blutbad, das noch vier Jahre weiterging, Tag um Tag, Stunde um Stunde veränderte ihren Charakter. Sie wurden brutal. Der Tod war rund um sie. Sie sahen schreckliche Kriegsverbrechen. Sie hatten den Befehl Gefangene zu erschießen, sie sahen wie jüdische Kinder geschlachtet wurden. Am Anfang wagten sie, noch schwach zu protestieren, dann behielten sie ihre Zweifel für sich; dann nahmen sie Teil an den Verbrechen, als ob es selbstverständlich wäre.
Eine der jungen Frauen meldete sich freiwillig an die Front in ein Militärkrankenhaus, wo sie Zeuge schrecklicher Agonien der Verwundeten wurde, eine jüdische Mitschwester denunzierte und sofort ein schlechtes Gewissen hatte, am Ende nahe Berlin von einem Sowjet-russischen Soldaten vergewaltigt wurde, wie fast alle deutschen Frauen i in den von der rachedürstenden Sowjetarmee eroberten Gebieten
Die israelischen Zuschauer im Kino könnten mehr am Schicksal des jüdischen Jungen interessiert gewesen sein, der an dem fröhlichen Fest zu Beginn des Filmes teilnahm. Sein Vater ist ein stolzer Deutscher, der sich nicht vorstellen konnte, dass Deutsche so schlimme von Hitler angedrohte Dinge tun könnten. Er dachte nicht im Traum daran, sein geliebtes Vaterland zu verlassen. Aber er warnte seinen Sohn, dass er ja keine sexuellen Beziehungen mit einer arischen Freundin haben solle: „es wäre gegen das Gesetz!“
Als der Sohn ins Ausland fliehen wollte, wozu ihm ein verräterischer Gestapo-Offizier „ half“, wurde er geschnappt und in die Todeslager geschickt. Es gelang ihm, unterwegs zu fliehen und schloss sich polnischen Partisanen an (die die Juden noch mehr hassten als die Nazis) und überlebte schließlich.
Vielleicht ist die tragischste Figur das zweite Mädchen, eine leichtfertige, sorglose Sängerin, die mit einem ranghohen SS-Mann schläft, um ihre Karriere zu fördern, wird mit ihrer Gruppe an die Front geschickt, um Soldaten zu unterhalten. So sieht sie, was dort wirklich geschieht, spricht sich über den Krieg aus, wird ins Gefängnis geschickt und in den letzten Stunden des Krieges hingerichtet.
ABER DAS Schicksal der Helden ist nur das Gerüst des Filmes. Viel wichtiger sind die kleinen Momente des täglichen Lebens, das Portrait verschiedener Charaktere der deutschen Gesellschaft.
Zum Beispiel, wenn ein Freund eine Wohnung besucht, in der die jüdische Familie gelebt hatte.; die blonde arische Frau, die den Platz übernommen hat, beschwert sich über den Zustand der Wohnung, aus der die Juden heraus geholt worden waren und in den Tod geschickt wurden. „Sie haben nicht einmal sauber gemacht, bevor sie sie verließen. So sind die Juden, ein schmutziges Volk!“
Jeder lebt in ständiger Angst, denunziert zu werden. Es ist ein durchdringender Terror, dem sich keiner entziehen kann. Selbst an der Front mit dem Tod vor Augen, eine Andeutung von Zweifel über den Endsieg, von einem Soldaten geäußert, wird sofort von seinen Kameraden zum Schweigen gebracht. „Bist du verrückt?“
Noch schlimmer ist die abgestumpfte Atmosphäre der universalen Übereinstimmung. Vom höchsten Offizier bis zum niedrigsten Dienstmädchen, wiederholt jeder endlos die Propagandaparolen des Regimes. Nicht aus Angst, aber weil sie jedes Wort der alles durchdringenden Propagandamaschine glauben. Sie hören nichts anderes.
Es ist immens wichtig, dies zu verstehen. In dem totalitären Staat, faschistisch oder kommunistisch oder sonst etwas, können nur wenige freie Geister den endlos wiederholten Slogans der Regierung widerstehen. Alles andere klingt irreal, anormal, verrückt. Als die sowjetische Armee schon ihren Weg durch Polen kämpfte und sich Berlin näherte, waren die Leute noch immer fest in ihrem Glauben an den Endsieg. Schließlich sagte der Führer so, und der Führer hat immer Recht. Allein die Idee ist grotesk.
Es ist dieses Element der Situation, die für viele Leute schwer zu begreifen ist. Ein Bürger unter einem kriminellen, totalitären Regime wird wie ein Kind. Propaganda wird für ihn zur Realität, die einzige Realität, die er kennt. Sie ist wirksamer als selbst der Terror.
DIES IST die Antwort auf die Frage, wir können uns nicht der Stimme enthalten und immer wieder fragen. Wie war der Holocaust möglich? Er wurde von einigen geplant, wurde aber von hundert Tausenden Deutscher durchgeführt, vom Lokomotivführer bis zu dem Beamten, der die Papiere ordnete. Wie konnten sie es tun?
Sie konnten, weil es für sie das natürlichste Ding war, es zu tun. Schließlich waren die Juden dabei, Deutschland zu zerstören. Die kommunistischen Horden bedrohten das Leben jedes wahren Ariers. Deutschland benötigte mehr Lebensraum der Führer hat das so gesagt. Deshalb ist der Film so bedeutend, nicht nur für die Deutschen, sondern für jedes Volk, einschließlich des unsrigen.
Die Leute, die sorglos mit Ultra-Nationalisten, Faschisten, Rassisten oder anderen anti-demokratischen Ideen nicht realisieren, dass sie mit dem Feuer spielen. Sie können sich nicht einmal vorstellen, was es bedeutet, in einem Land zu leben, das die Menschenrechte mit Füßen tritt, das die Demokratie verachtet, das ein anderes Volk unterdrückt, das Minderheiten dämonisiert.
Der Film zeigt wem oder was es gleicht: der Hölle.
Der Film verbirgt nicht, dass die Juden die Hauptopfer im Nazireich waren und nichts ihren Leiden nahe kommt. Das zweite Opfer war das deutsche Volk, Opfer seiner selbst.
Viele Leute bestehen darauf, dass nach diesem Trauma, die Juden sich nicht wie normale Menschen benehmen können und dass deshalb Israel nicht nach den Standards von normalen Staaten beurteilt werden kann. Sie sind traumatisiert.
Dies trifft auch für das deutsche Volk zu. Allein die Notwendigkeit, diesen ungewöhnlichen Film zu produzieren beweist, dass das Nazigespenst noch immer die Deutschen verfolgt, dass sie noch immer von ihrer Vergangenheit traumatisiert sind.
Als Angela Merkel in dieser Woche Benjamin Netanjahu besuchte, lachte die ganze Welt über das Foto, auf dem der Schatten des Fingers des Minister-Präsidenten versehentlich einen Schnauzbart ins Gesicht der Kanzlerin wirft.
Aber die Beziehungen zwischen unsern beiden traumatisierten Völkern sind weit davon entfernt, ein Witz zu sein.
(Aus dem Englischen Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)