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Kann der Herzog König werden?
AM MONTAG stimmte die Knesset zu, sich selbst aufzulösen, weniger als zwei Jahre nach ihrer letzten Wahl. Für viele ihrer Mitglieder war es ein trauriger Tag, eine Art politischer Hara-kiri. Sie haben nicht die Chance, wieder gewählt zu werden. Einige von ihnen sind so, dass man sie getrost vergessen kann: ich kann mir ihre Namen und ihre Gesichter nicht ins Gedächtnis zurückrufen.
Sie waren erstaunlich.
DAS ERSTE Ergebnis war, dass die Labor-Partei nach ihrer erwarteten Vereinigung mit Zipi Livnis „Bewegungs-Partei“ in der nächsten Knesset die größte Partei sein wird.
Die Israelis schnappten nach Luft. Was? Labor? Eine Partei, die viele für klinisch tot hielten?
Natürlich ist dies nur die erste von Hunderten von Meinungsumfragen vor dem Wahltag am 17. März 2015. (Seitdem haben andere Umfragen ihre Ergebnisse bestätigt.)
Ein zweites Ergebnis war, dass der Likud an zweiter Stelle genau dieselbe Anzahl von Sitzen bekäme, ob er nun von Benjamin Netanjahu geleitet würde oder von seinem Herausforderer Gideon Sa’ar, einem glanzlosen Parteifunktionär (und einem früheren Angestellten von mir). Als Innenminister tat er sich hauptsächlich dadurch hervor, dass er afrikanische Asylsuchende verfolgte. (Er hat sich seitdem zurückgezogen.)
Ist es möglich? Dass Netanjahu der Große, der „freundliche Bibi“ des Time-Magazins, nicht länger ein Stimmenmagnet ist?
Die Partei von Yair Lapid, der Held der letzten Wahlen, schrumpft auf die Hälfte der Sitze. Wie die Staude im Buch Jonah, „die in einer Nacht hochwuchs (und Schatten spendete) und in einer Nacht verdorrte“).
Aber die wirkliche Sensation der Meinungsumfrage war etwas anderes: obwohl Netanjahu noch immer die Liste bevorzugter Kandidaten für den Minister-präsidenten anführte, kam Jitzhak Herzog, der Führer von Labor so nah an ihn heran, um praktisch keinen Unterschied zu machen.
Nur einen Monat zuvor wäre solch ein Ergebnis wie ein lustiger Witz erschienen. Zu jener Zeit hatte Netanjahu die unanfechtbare Führung, der über allen anderen emporragte. Nach konventioneller Weisheit hieß es: „da gibt es keinen anderen“.
Doch jetzt gibt es einen. Herzog! Herzog?
HERZOG IST ein deutsches Wort. Jitzhak, allgemein Buji genannt (seine Mutter nannte ihn als Kind so), ist tatsächlich „aristokratischen“ Ursprungs.
Sein Großvater, Jitzhak Herzog (nach dem er- nach jüdischer Tradition genannt wurde) war der Oberrabbiner von Irland. Er hatte einen solch guten Ruf, dass er in den 30erJahren berufen wurde, der Aschkenazi-Oberrabbiner von Palästina zu werden. Er wurde (vergleichsweise) für liberal gehalten.
Sein Sohn Chaim studierte in England und zeichnete sich als Boxer aus und schloss sich der britischen Armee im 2. Weltkrieg an. Er diente als Nachrichtenoffizier in Ägypten, als er dort Susan Ambash, die Tochter einer reichen lokalen jüdischen Familie traf.
Die beiden Ambash-Mädchen wurden samstags in die Synagoge geschickt. An einem Schabbat trafen sie zwei jüdische Offiziere, die sie zum Schabbat-Mahl nach Hause einladen durften. Der eine war Chaim Herzog und der andere Aubey (Abba) Eban. Sie heirateten sie.
Im 1948er-Krieg schloss sich Chaim Herzog der neuen israelischen Armee als Offizier des Nachrichtendienstes an; schließlich wurde er General und Chef des Armee-Nachrichtendienstes. Nach Verlassen der Armee gründete er das, was die größte und reichste israelische Firma der Rechtsanwälte wurde.
Aber seine wirklichen Ruhmestage kamen vor dem des Sechs-Tage-Krieg. Drei Wochen lang wurde Israel Opfer akuter Ängste. Einige sprachen davon, dass ein zweiter Holocaust komme. Während dieser Zeit hatte General Herzog ein tägliches Programm im Radio. Es gelang ihm, die öffentliche Stimmung mit seiner nüchternen, sensiblen Analyse zu beruhigen. Weder verkleinerte noch übertrieb er die bevorstehende Gefahr.
Die Menschen belohnten ihn mit der Präsidentschaft des Staates. Auf diesem Posten war er mehr Brite als Israeli. Ein Beispiel: in einer Zeit, als ich von allen leitenden Persönlichkeiten des Establishments boykottiert wurde, wurde ich von einer Einladung überrascht: zu einem privaten Essen mit ihm in die Präsidentenresidenz.
Wir hatten ein freundliches Gespräch ohne besondere Themen. Er wollte mich nur kennen lernen.
Ich benützte die Gelegenheit und bat ihn inständig um seine Einmischung bei den Sicherheitsarrangements am Ben-Gurion-Flughafen, wo arabische Bürger routinemäßig aus der anstehenden Reihe herausgeholt wurden (und noch werden) und in demütigender Weise durchsucht werden. (Er versprach es, aber nichts änderte sich.)
Ich hatte ein ähnliches Mahl mit seinem Bruder Jakob, der damals Generaldirektor des Minister-Präsidentenamts war. Von den beiden Brüdern wurde Jakob als der mit herausragendem Verstand angesehen. Ich predigte damals wie heute die Zwei-Staaten-Lösung, die zu jener Zeit in Israel und in aller Welt total zurück gewiesen wurde. Während des Essens sagte Jakob, er würde gerne meine Argumente für diese Lösung hören und nahm mich ins Kreuzverhör - das war wieder eine britische und keine israelische Haltung.
JITZHAK HERZOG diente in der Armee auch im Nachrichtendienst, bevor er zum Kabinettsekretär ernannt wurde. Als er sich wie sein Vater der Labor-Partei anschloss, wurde er Mitglied der Knesset und Minister von verschiedenen kleineren Ministerien.
Zart gebaut, mit blauen Augen und heller Hautfarbe sieht Herzog (54) eher wie ein Engländer aus denn als Israeli. Er spricht sanft und drückt sich in moderater Weise aus und hat keine Feinde. Er ist das Gegenteil eines typisch israelischen Politikers.
Er überraschte jeden, als er jemand von diesen besiegte. Sheli Jachimovitch ist schroff, offen und streitlustig, eine resolute Sozialistin, die nicht zögert, den Leuten auf die Füße zu treten. Sie brachte zu viele Kollegen gegen sich auf und wurde abgewählt. Buji wurde Führer der Partei und automatisch „Führer der Opposition“, ein Titel und Status, entsprechend dem Gesetz für den Führer der größten Oppositionspartei.
(Einer der kleinen politischen Scherze: Herzog war dabei, diesen Titel und die Sozialleistungen, die damit verbunden sind, zu verlieren, als Netanjahu Lapid entließ, dessen Knesset-Fraktion größer als Labor ist. Da die Knesset sich auflöst, erbte Lapid den Titel nicht.)
ALS HERZOG die Parteiführung übernahm, verlor er keine Zeit, sich jetzt selbst zum Kandidaten als Ministerpräsident zu erklären. Dies wurde allgemein mit einem toleranten Lächeln entgegen genommen.
Jetzt scheint dies, zum ersten Mal möglich zu sein. Wahrscheinlich, aber das Unmögliche ist möglich geworden. Das Undenkbare denkbar. Dies ist an sich schon eine Revolution.
Während der letzten Jahre sind die israelischen Medien von der Idee besessen gewesen, „Israel bewege sich zur Rechten hin“. Dass Netanjahu – so schlecht er ist – jenen vorzuziehen ist, die ihm unweigerlich folgen würden - Faschisten, Kriegstreiber, Araberfresser.
Es war fast Mode, zu erklären, dass die Linke erledigt sei, tot, verstorben. Unter den Kommentatoren - besonders unter den Linken- ist es unerlässlich, die restlichen Linken zu verhöhnen. Arme Kerle (und natürlich arme Mädels) Sie können nicht sehen, was vor sich geht. Sie hegen Illusionen, pfeifen in der zunehmenden Dunkelheit.
Und plötzlich gibt es eine Chance – zwar eine entfernte, aber eine Chance, dass die Linke wieder an die Macht kommt.
WARUM? WAS ist geschehen?
Die einfachste Erklärung ist, dass die Leute von „Bibi“ genug hatten. Netanjahu ist eine Person, von der man schnell die Nase voll hatte. Tatsächlich ist ihm dies vorher geschehen. Sarahle, seine Frau, die allgemein unbeliebt ist, hilft auch nicht.
Aber ich glaube, es hat noch einen tieferen Grund. Die Meinungsumfrage zeigt, der Likud würde mit einem anderen Hauptkandidaten nicht besser fahren. Hat der Likud seinen Kontakt verloren?
Zwei Faktoren haben dazu beigetragen:
Zunächst Moshe Kachlon, ein vormaliger typischer Likud-Anhänger, unter seinen Parteigenossen sehr populär, verlässt, ohne einen Grund anzugeben, seine Partei.
Als Minister für das Kommunikationswesen, einem sehr kleinen Ministerium, war Kachlon sehr beliebt geworden. Er nahm sich der Großindustriellen der Mobil-Telefone an, brach ihr Monopol, führte einen Wettbewerb ein und halbierte die Preise. Es ist schwer, sich einen jungen Israeli – männlich oder weiblich – ohne ein Mobiltelefon am Ohr vorzustellen. So wurde er ein Held.
Jetzt hat Kachlon, der nur zwei Monate jünger als Herzog ist, verkündet, dass er dabei ist, eine neue Partei zu gründen. Sie wird „Kulanu“ (Wir alle) genannt. Obwohl sie noch keine Kandidaten hat, tauchte sie in der Meinungsumfrage schon mit zehn Sitzen auf – meistens frühere Likudwähler.
Dies ist aus mehreren Gründen unglaublich bedeutsam. Erstens besteht die Grundwählerschaft des Likud aus orientalischen Juden, auch wenn Menachem Begin, Netanjahu und die meisten ihrer Kollegen Aschkenazim waren bzw. sind. Kachlon ist so orientalisch wie man sich nur denken kann: seine Eltern kommen aus Tripoli (Libyen). Sie haben sieben Kinder und Moshe wuchs mit ihnen in einem armen Immigrantenviertel auf.
Den Einfluss des Likud auf die orientalische Gemeinschaft, ist äußerst bedeutsam. Speziell wenn Kachlon Begin als den Führer zitiert, der die ganze Sinai-Halbinsel für Frieden mit Ägypten aufgab. Sein „moderater Likud“ könnte in der nächsten Knesset das ganze Gleichgewicht zwischen dem rechten Flügel und Mitte-Links verändern. Und genau dies zählt.
Der zweite Faktor: Bennetts extrem rechte Partei, die religiös-nationalistische „Jüdisches Heim“ -Partei( manche sagen Faschisten) gewinnt an Stärke – auch sie gewinnen Stimmen vom Likud. Naftali Bennet, glatt, liebenswürdig, mit der kleinsten Kippa der Welt auf seinem Kopf findet auch bei säkularen Wählern Anklang.
Er ist 12 Jahre jünger als Herzog und Kachlon.
Gewöhnlich halten die orthodoxen Parteien den Schlüssel. Da sie sich weder um den linken noch den rechten Flügel kümmern und nur sich selbst verbunden sind, können sie wählen.
Lange Zeit waren sie die Verbündeten von Labor. Während der letzten paar Jahrzehnte waren sie automatisch Verbündete der Rechten. Nach den letzten Wahlen ließ Netanjahu sie wegen des ultra-säkularen Lapid fallen. Nun sind sie dabei, sich zu rächen. Da Herzog der Enkel eines Oberrabbiners ist, ist er wählbar.
HERZOG HATTE seinen ersten Erfolg bei der augenblicklichen Kampagne, als er mit Zipi Livni, eine gemeinsame Liste aufstellte. Nun ist es an ihm, den Moment fest zu halten und - möglicherweise - Bündnisse mit Lapid, Kachlon und Meretz zu knüpfen. Falls er bei den Wahlen erfolgreich ist, muss er seine Hände nur noch nach den Orthodoxen und den Arabern ausstrecken.
In der letzten Woche skizzierte ich diese Vision. In dieser Woche hat sie sich einen kleinen, aber bedeutsamen Schritt der Realisierung genähert.
Kann der Herzog König werden? Das ist es, was uns die Geschichtsbücher erzählen. Aus dem Herzogsgeschlecht der Hohenzollern kamen Könige und Kaiser.
(Aus dem Englischen übersetzt: Ellen Rohlfs, vom Verfasserautorisiert)