Der Frieden zwischen Israel und Palästina ist möglich !!

Uri Avnery vertritt seit 1948 die Idee des israelisch-palästinensischen Friedens und die Koexistenz zweier Staaten: des Staates Israel und des Staates Palästina, mit Jerusalem als gemeinsamer Hauptstadt. Uri Avnery schuf eine Weltsensation, als er mitten im Libanonkrieg (1982) die Front überquerte und sich als erster Israeli mit Jassir Arafat traf. Er stellte schon 1974 die ersten geheimen Kontakte mit der PLO-Führung her.

  • Uri Avnery trifft Jassir Arafat - Foto Uri Avnery 1982

  • Festakt zur Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaille 2008 der Internationalen Liga für Menschenrechte. Von links nach rechts: Mohammed Khatib & Abdallah Aburama (Bürgerkomitee von Bil'in), Rachel Avnery, Fanny-Michaela Reisin (Präsidentin der Liga), Uri Avnery, Adi Winter & Yossi Bartal (Anarchists against the wall) - Foto Michael F. Mehnert CC BY-SA 3.0

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Archiv

Jan 17, 2009

Der Boss ist wahnsinnig geworden


Der Schatten dieses zweiten Libanonkrieges liegt schwer über dem Gazakrieg. Alle in Israel schworen, seine Lektion gelernt zu haben. Und die Hauptlektion war, das Leben keines einzigen Soldaten zu riskieren. Ein Krieg ohne Verluste (auf unserer Seite). Die Methode: riesige Feuerkraft unserer Armee anwenden, um alles und jedes, was in ihrem Wege steht, zu pulverisieren und jeden zu töten, der sich im Gebiet bewegt. Nicht nur die Kämpfer auf der anderen Seite, sondern jedes menschliche Wesen, das vielleicht feindliche Absichten hegen könnte, selbst wenn es ein Sanitäter im Ambulanzwagen, der Fahrer eines Lebensmittelkonvois ist oder ein Arzt, der Leben retten will. Jedes Gebäude zerstören, von dem aus unsere Soldaten beschossen werden könnten, sogar eine Schule, die voller Flüchtlinge, Kranker oder Verletzter ist. Ganze Stadtteile werden bombardiert und beschossen, Gebäude, Moscheen, Schulen, UN-Lebensmittelkonvois, sogar Ruinen, unter denen Verletzte begraben liegen.


Der Boss ist wahnsinnig geworden

Uri Avnery

VOR 169 JAHREN schrieb Heinrich Heine ein zwölfzeiliges warnendes Gedicht unter dem Titel „An Edom“. Der deutsch-jüdische Dichter meinte damit Deutschland und vielleicht alle Nationen des christlichen Europas.

„Ein Jahrtausend schon und länger,/ Dulden wir uns brüderlich/ Du, du duldest, dass ich atme, Dass du rasest, dulde ich.// Manchmal nur in dunklen Zeiten,/ Ward dir wunderlich zu Mut,/ Und die liebefrommen Tätzchen/ Färbtest du mit meinem Blut!// Jetzt wird unsre Freundschaft fester,/Und noch täglich nimmt sie zu:/Denn ich selbst begann zu rasen,/ Und ich werde fast wie du“.

Der Zionismus, der etwa 50 Jahre, nachdem das Gedicht geschrieben wurde, entstanden ist, hat diese Prophezeiung voll erfüllt. Wir Israelis sind wie alle anderen Nationen geworden, und die Erinnerung an den Holocaust bringt uns von Zeit zu Zeit dazu, uns wie die Schlimmsten unter ihnen zu verhalten. Nur wenige von uns kennen dieses Gedicht von Heine, aber Israel als Ganzes benimmt sich entsprechend.

In diesem Krieg haben Politiker und Generäle wiederholt die Worte zitiert: „Der Boss ist wahnsinnig geworden!“ Ursprünglich wurde dies vom Gemüsehändler auf dem Markt gerufen, im Sinne von ‚Der Boss ist verrückt geworden, er verkauft seine Tomaten mit Verlust’. Aber im Laufe der Zeit ist aus dem Scherz eine tödliche Doktrin geworden, die oft bei öffentlichen Diskursen auftaucht; um unsere Feinde abzuschrecken, müssen wir uns wie Wahnsinnige benehmen, müssen gnadenlos töten und zerstören.

In diesem Krieg ist dies zu einem politischen und militärischen Dogma geworden: nur wenn wir „sie“ ohne jegliche Verhältnismäßigkeit umbringen, tausend von „ihnen“ für zehn von „uns“, dann werden sie verstehen, dass es sich nicht lohnt, sich mit uns anzulegen. Es wird sich „ihnen ins Bewusstsein brennen“ (ein beliebter israelischer Satz in diesen Tagen). Danach werden sie zweimal nachdenken, bevor sie wieder eine Qassam-Rakete gegen uns abfeuern – auch als Antwort auf das, was wir tun, ganz gleich, was es ist.

Man kann die Bösartigkeit dieses Krieges nicht verstehen, wenn man den historischen Hintergrund nicht berücksichtigt: die Opfermentalität nach all dem, was Juden Jahrhunderte lang angetan wurde, und die Überzeugung, dass wir nach dem Holocaust das Recht haben, alles - absolut alles - tun zu dürfen, um uns zu verteidigen - ohne Hemmungen durch Gesetz und Moral.


ALS DAS Töten und Zerstören im Gazastreifen auf seinem Höhepunkt war, geschah etwas weit weg in Amerika und hatte gar nichts mit dem Krieg hier zu tun – war aber doch sehr mit ihm verknüpft. Der israelische Film „Waltz with Bashir“ wurde mit einem wichtigen Preis ausgezeichnet. Die Medien berichteten mit großer Freude und mit Stolz darüber, aber sie brachten es irgendwie fertig, das Thema des Filmes nicht zu erwähnen. Das war an sich schon ein interessantes Phänomen: man begrüßt den Erfolg eines Filmes, ohne auf seinen Inhalt einzugehen.

Das Thema dieses außergewöhnlichen Films ist eines der dunkelsten Kapitel in unserer Geschichte: das Sabra- und Shatila-Massaker. Im Laufe des ersten Libanonkrieges führte eine christlich-libanesische Miliz unter der Schirmherrschaft der israelischen Armee ein abscheuliches Massaker an Hunderten von hilflosen palästinensischen Flüchtlingen aus, die in ihrem Lager eingesperrt waren, an Männern, Frauen, Kindern und alten Leuten. Der Film beschreibt diese Schreckenstaten peinlich genau, einschließlich unseres Anteils.

All dies wurde bei den Nachrichten über den Preis nicht erwähnt. Bei der Preisverleihungszeremonie ergriff der Regisseur nicht die Gelegenheit, um gegen die aktuellen Ereignisse im Gazastreifen zu protestieren, die dort eben geschahen. Wie viele Frauen und Kinder während dieser Feier getötet wurden, kann man nicht sagen – aber es ist eindeutig, dass das Massaker im Gazastreifen viel schlimmer ist als jenes Ereignis von 1982, das 400 000 Israelis dazu brachte, ihre Häuser zu verlassen und einen spontanen Protest in Tel Aviv abzuhalten. Dieses Mal gingen nur zehntausend auf die Straße.

Der offizielle israelische Untersuchungsausschuss, der sich mit dem Sabra-Massaker befasste, stellte fest, dass die israelische Regierung „indirekte Verantwortung“ für die Gräueltat trug. Mehrere ranghohe Politiker und Offiziere wurden suspendiert. Einer von ihnen war der Divisionskommandeur Amos Yaron. Keiner der anderen Angeklagten, vom Verteidigungsminister Ariel Sharon bis zum Stabschef Rafael Eitan, sagten ein Wort des Bedauerns, nur Yaron gestand in einer Rede gegenüber seinen Offizieren Reue ein und gab zu: „Unsere Empfindungsfähigkeit (für andere) ist abgestumpft“


GEFÜHLLOSIGKEIT ist der charakteristische Zug des Gazakrieges.

Der erste Libanonkrieg dauerte 18 Jahre und kostete mehr als 500 unserer Soldaten das Leben. Die Planer des zweiten Libanonkrieges entschieden sich, solch einen langen Krieg und solch eine hohe Todesrate zu vermeiden. Sie erfanden das Prinzip des „wahnsinnigen Bosses“: das Zerstören von ganzen Stadtteilen, das Verwüsten ganzer Gebiete, das Zerstören der Infrastrukturen. Während 33 Kriegstagen wurden 2006 etwa 1000 Libanesen getötet, die meisten von ihnen Zivilisten – ein Rekord, der in diesem Krieg schon am 17. Tag gebrochen wurde. Doch in jenem Krieg erlitten unsere Bodentruppen vor Ort große Verluste. Und die öffentliche Meinung, die zu Beginn den Krieg mit demselben Enthusiasmus wie dieses Mal unterstützte, änderte sich schnell.

Der Schatten dieses zweiten Libanonkrieges liegt schwer über dem Gazakrieg. Alle in Israel schworen, seine Lektion gelernt zu haben. Und die Hauptlektion war, das Leben keines einzigen Soldaten zu riskieren. Ein Krieg ohne Verluste (auf unserer Seite). Die Methode: riesige Feuerkraft unserer Armee anwenden, um alles und jedes, was in ihrem Wege steht, zu pulverisieren und jeden zu töten, der sich im Gebiet bewegt. Nicht nur die Kämpfer auf der anderen Seite, sondern jedes menschliche Wesen, das vielleicht feindliche Absichten hegen könnte, selbst wenn es ein Sanitäter im Ambulanzwagen, der Fahrer eines Lebensmittelkonvois ist oder ein Arzt, der Leben retten will. Jedes Gebäude zerstören, von dem aus unsere Soldaten beschossen werden könnten, sogar eine Schule, die voller Flüchtlinge, Kranker oder Verletzter ist. Ganze Stadtteile werden bombardiert und beschossen, Gebäude, Moscheen, Schulen, UN-Lebensmittelkonvois, sogar Ruinen, unter denen Verletzte begraben liegen.

Die Medien widmeten mehrere Stunden dem Fall einer Qassam-Rakete auf ein Haus in Ashkalon, in dem drei Bewohner einen Schock erlitten; sie verlieren aber kaum Worte über die vierzig Frauen und Kinder, die in der UN-Schule getötet wurden, von der „wir beschossen worden sind“, was sehr schnell als glatte Lüge entlarvt wurde.

Die Feuerkraft wurde auch dazu verwendet, um Angst und Schrecken zu verbreiten – es wurde alles beschossen: vom Krankenhaus bis zum ausgedehnten UN Lebensmitteldepot, von einem Presseaussichtspunkt bis zu den Moscheen. Der übliche Vorwand: wir wurden von dort beschossen.

Dies wäre unmöglich gewesen, wäre nicht das ganze Land durch Gefühllosigkeit infiziert worden. Die Leute sind nicht mehr geschockt, wenn sie ein verstümmeltes Baby sehen, noch von Kindern, die tagelang neben der Leiche der Mutter lagen, weil die Armee sie nicht aus dem zerstörten Haus ließ. Es scheint, als ob sich fast niemand mehr um irgendetwas kümmere: weder die Soldaten noch die Piloten, weder die Medien noch die Politiker und auch die Generäle nicht. Moralischer Wahnsinn, dessen Hauptexponent Ehud Barak ist. Vielleicht wird er von Zipi Livni übertroffen, die lächelte, während sie über das grässliche Geschehen redete.

Selbst Heinrich Heine hätte sich dies nicht vorstellen können.


DIE LETZTEN TAGE wurden vom „Obama –Effekt“ beherrscht.

Wir sind an Bord eines Flugzeuges und plötzlich erscheint vor uns aus den Wolken ein schwarzer Berg. Im Cockpit bricht Panik aus: wie eine Kollision vermeiden?

Die Kriegsplaner wählten den Kriegszeitpunkt sorgfältig aus: während der Ferien, während alle auf Urlaub waren – und während Bush noch amtierte. Aber irgendwie vergaßen sie ein schicksalhaftes Datum in Erwägung zu ziehen: am nächsten Dienstag wird Barack Obama ins Weiße Haus einziehen.

Dieses Datum wirft nun seinen Schatten auf die Ereignisse. Der israelische Barak versteht, dass eine Verärgerung des amerikanischen Barack eine Katastrophe bedeuten würde. Die Schlussfolgerung: die Schrecken von Gaza müssen vor der Amtseinführung beendet sein. Alle politischen und militärischen Entscheidungen werden davon bestimmt. Nicht „die Zahl der Qassams“, nicht „der Sieg“ und nicht
„die Hamas brechen.“


WENN ES eine Feuerpause geben wird, wird die erste Frage sein: wer hat gewonnen?

In Israel geht alles Gerede um das „Bild des Sieges“ – nicht um den Sieg selbst, sondern um das „Bild“. Das ist wesentlich, um die israelische Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass sich das ganze Geschäft gelohnt hat. Im Augenblick sind all die Tausende der Medienleute bis zum letzen mobilisiert worden, solch ein „Bild“ zu malen. Die andere Seite wird natürlich ein anderes Bild malen.

Die israelischen Führer werden sich zweier Erfolge rühmen: das Ende der Qassams und das Verschließen der Gaza-Ägyptengrenze (die sog. „Philadelphi-Route“). Das sind zweifelhafte Erfolge; denn das Abfeuern der Qassams hätte auch ohne mörderischen Krieg verhindert werden können, wenn unsere Regierung bereit gewesen wäre, mit der Hamas zu verhandeln, nachdem sie die palästinensischen Wahlen gewonnen hatte. Die Tunnels unter der ägyptischen Grenze wären gar nicht gegraben worden, wenn unsere Regierung nicht eine so tödliche Blockade über den Streifen verhängt hätte.

Aber der Haupterfolg der Kriegsplaner liegt in der großen Grausamkeit ihres Planes: die Grausamkeiten haben ihrer Meinung nach einen abschreckenden Effekt, der lange Zeit anhalten wird.
Hamas auf der anderen Seite wird behaupten, dass ihr Überleben angesichts der mächtigen israelischen Kriegsmaschine – ein winziger David gegen einen riesigen Goliath - an sich schon einen Sieg darstellt. Nach der klassischen militärischen Definition ist der Sieger einer Schlacht derjenige, der nach der Schlacht auf dem Schlachtfeld bleibt. Trotz aller Bemühungen, das Hamas-Regime zu eliminieren, bleibt es, wo es ist. Das ist ein großer Erfolg.

Hamas wird auch darauf hinweisen, dass die israelische Armee nicht darauf aus war, die palästinensischen Städte zu betreten, in denen ihre Kämpfer verschanzt waren. Und tatsächlich sagte die Armee der Regierung, dass die Eroberung von Gazastadt das Leben von 200 Soldaten kosten könnte. Und kein Politiker wäre am Vorabend der Wahlen dazu bereit.

Allein die Tatsache, dass eine Guerillagruppe von ein paar Tausend leicht bewaffneter Kämpfer wochenlang gegen eine der mächtigsten Armeen der Welt mit enormer Feuerkraft ausgehalten hat, sieht für Millionen von Palästinensern und anderen Arabern und Muslimen – und nicht nur für sie – wie ein vollständiger Sieg aus.

Am Ende wird ein Abkommen geschlossen werden, das die offenkundigen Bedingungen einschließt. Kein Land kann es dulden, dass seine Bewohner Raketenbeschuss von jenseits der Grenze ausgesetzt sind – und keine Bevölkerung kann es ertragen, dass sie einer lebensbedrohenden Blockade ausgesetzt ist. Deshalb muss 1. die Hamas mit dem Abschießen der Qassams aufhören und 2. muss Israel die Grenzübergänge zwischen dem Gazastreifen und der Außenwelt öffnen und 3. muss die Waffenlieferung in den Gazastreifen (so gut wie möglich) gestoppt werden, wie es von Israel verlangt wird. All dies hätte auch ohne Krieg geschehen können, wenn unsere Regierung die Hamas nicht boykottiert hätte.


DOCH DIE schlimmsten Folgen dieses Krieges sind noch nicht zu sehen und werden erst in Jahren bemerkt werden. Israel hat im Weltbewusstsein ein schreckliches Image von sich selbst zurückgelassen. Milliarden von Menschen haben uns als blutrünstiges Monster wahrgenommen. Sie werden Israel nie wieder als einen sympathischen Staat sehen, als einen Staat, der Gerechtigkeit, Fortschritt und Frieden sucht. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung spricht von einem anständigen Respekt vor „den Ansichten der Menschheit“. Das ist ein weises Prinzip.

Noch schlimmer ist die Wirkung auf die Hunderte von Millionen Araber rund um uns: sie werden nicht nur die Hamaskämpfer als die Helden der arabischen Nation ansehen, sie sehen auch ihre eigenen Regime in ihrer Nacktheit: kriecherisch, schmachvoll, korrupt und verräterisch.

Die arabische Niederlage im 1948er-Krieg brachte in seiner Folge den Fall fast aller arabischen Regime und den Aufstieg einer neuen Generation nationalistischer Führer wie z.B. Gamal Abd al-Nasser. Der Krieg von 2009 könnte den Fall der augenblicklichen arabischen Regime und den Aufstieg einer neuen Generation von Führern mit sich bringen – islamischen Fundamentalisten, die Israel und den ganzen Westen hassen.

In den kommenden Jahren wird deutlich werden, dass dieser Krieg reiner Wahnsinn war. Der Boss ist tatsächlich wahnsinnig geworden – in des Wortes tiefster Bedeutung.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser autorisiert)