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Zipis Nationalstaat
Uri Avnery
ES KLINGT wie eine phantastische Geschichte. Und das ist sie tatsächlich auch.
In dieser Geschichte steht ein amerikanischer Politiker auf und erklärt, die Vereinigten Staaten seien von britischen Protestanten gegründet worden, die in Europa wegen ihres puritanischen Glaubens verfolgt worden seien. Deshalb seien die Vereinigten Staaten ein angel-sächsischer protestantischer Staat.
Und er fährt fort: die Vereinigten Staaten sind auch ein demokratischer Staat. Deshalb erfreuen sich Leute mit anderem Hintergrund, wie z.B. die amerikanischen Ureinwohner, Afrikaner, Südamerikaner, Asiaten und Juden der vollen Gleichheit. Aber sie müssen wissen, dass die Vereinigten Staaten ein angelsächsischer Nationalstaat ist, während sie zu anderen Nationalstaaten gehören.
Klingt das weit hergeholt? Ja, tatsächlich. Kein amerikanischer Politiker würde nur daran denken, solch ein Statement zu machen – selbst wenn er in seinem tiefsten Inneren so empfinden würde.
Hier in Israel kann man so etwas sagen – und keiner regt sich darüber auf.
IN DER VERGANGENEN Woche sagte Zipi Livni genau dies. Sie sprach vor Gymnasiasten – ein Auditorium, das unsere Politiker mögen, die wissen, dass der größte Teil von ihnen Konformisten sind, die jedem ohne Protest zuhören. Als Zipi vor diesen Schülern stand, vor Jungen und Mädchen, die in ein, zwei Jahren zur Armee einberufen werden, enthüllte sie ihre inneren Überzeugungen.
Sie sagte, Israel ist ein jüdischer und demokratischer Staat. Die arabischen Bürger erfreuen sich aller bürgerlichen Rechte. Aber sie müssen wissen, dass dies ein jüdischer Nationalstaat ist, während sie zu einer anderen Nation gehören. Ihr Nationalstaat wird der zukünftige palästinensische Staat sein.
Dieses Statement hat keinen Sturm verursacht, weder an Ort und Stelle noch in den Medien. Es steht nicht im Widerspruch zu den Überzeugungen der meisten Israelis. Die Allgemeinheit akzeptiert die Ansicht, dass Israel ein jüdischer Staat ist und dass seine arabischen Bürger höchstens eine tolerierte Minderheit ist.
Das Besondere an Zipi Livnis Statement ist ihre Betonung auf dem Wort „Nationalstaat“ („nation state“). Sie hat dieses Wort zu ihrem Markenzeichen gemacht und wiederholt es bei jeder Gelegenheit. Es gibt ihren Statements eine gewisse Seriosität, eine Art Heiligenschein durchdachter Weltanschauung, die sie von Ehud Olmert, Binyamin Netanyahu und Ehud Barak , die alle genau dasselbe denken, unterscheidet.
KEINER leugnet, dass die Welt unter Nationalstaaten aufgeteilt ist. Das, was einem Welt-
Parlament am nächsten kommt, wird „Vereinte Nationen“ (Unites Nations, UN) genannt und meint die „Vereinten Nationalstaaten“. Die Frage bleibt nur: was ist ein Nationalstaat?
Was den historischen Begriff betrifft, so ist ein Nationalstaat ein relativ neues Phänomen. Vor erst hundert Jahren gehörten große Teile Europas zu multi-nationalen Reichen. Es war die Dynastie, die das Reich vereinigte, nicht die nationale Identität seiner Untertanen. Das Österreichisch-Habsburgische Reich schloss mehr als ein Dutzend Nationen ein; genau so war es im russischen Zarenreich.
Tatsächlich kristallisierte sich die nationale Idee erst Anfang des 19. Jahrhunderts heraus. Immer mehr Denker übernahmen die Ansicht, dass eine Gesellschaft mit denselben Wurzeln, derselben kulturellen Identität, meistens derselben Sprache, auf demselben gemeinsamen Gebiet und meistens derselben Religion in ein und demselben Staat vereinigt sein sollte, der nur ihr gehört und nationale Unabhängigkeit haben sollte.
Dass dies genau in dieser Zeit geschah, war nicht zufällig. In ganz Europa entwickelte sich ein Massenbildungssystem und alle Völker entwickelten ein nationales Bewusstsein. Slowaken und Slowenen fragten sich, warum sie Untertanen der österreichischen Krone sein sollten; Litauer und Letten fanden es nicht mehr normal, dass sie vom russischen Zaren unterdrückt werden sollten. In derselben Zeit erforderten wirtschaftliche und technische Fortschritte Staaten, die groß genug waren, um eine moderne Wirtschaft aufrecht zu erhalten, und Armeen , die groß genug waren, ihre Bürger zu verteidigen (und vielleicht benachbarte Staaten anzugreifen).
Der klassische Nationalstaat war Frankreich. Es entwickelte sich eine französische Nation mit nationalistischer Weltsicht und Nationalstolz und die ihre Sprache und Kultur auch Völkern auferlegte, die entweder mit einem Abkommen oder unter Zwang ein Teil Frankreichs wurden: die Elsässer im Osten, die Korsen im Süden, die Basken im Südwesten, die Bretonen im Norden. Der britische Nationalismus absorbierte die Schotten, die Waliser und einige Iren. Die Völker, die von großen Nationen verschlungen wurden, akzeptierten dies gewöhnlich und waren stolz auf ihre neue Nationalität. Der Korse Napoleon Bonaparte war ein Franzose, par Excellence und der Jude Benjamin Disraeli schuf das britische Empire.
Das war die Blütezeit des klassischen Nationalstaates: ein nationaler Staat, so homogen wie möglich, der seine Minderheiten höchstens tolerierte oder auch direkt verfolgte, was nationalen Konformismus im Lande verlangte und jede Moral in seinen Beziehungen zu andern Nationalstaaten verachtete, wenn man es mit anderen Nationalstaaten zu tun hatte.
Es scheint so, als ob Zipi Livni an einen solchen Nationalstaat als ihr Ideal denkt. Aber die Entwicklungen haben längst ein anderes Stadium erreicht.
Der Nationalstaat ist nicht gestorben, aber er ist kaum wieder zu erkennen.
AUCH DIE Vereinigten Staaten sind ein Nationalstaat. Aber diese Nation unterscheidet sich doch sehr von dem, die sich Zipi Livni erträumt.
Die amerikanische Nation setzt sich aus allen Bürgern der USA zusammen. Litauer, Argentinier und Vietnamesen werden in dem Augenblick Mitglieder der amerikanischen Nation, wenn sie ihre Staatsbürgerschaft erhalten. Das Erbe Washingtons und Lincolns bekommen sie zusammen mit ihrem Pass. Man verlangt von ihnen nicht, dass sie ihre Religion oder Hautfarbe verändern.
Die letzte Bestätigung für den Erfolg dieses Systems wurde durch die Wahl Barack Obamas gegeben, des Enkels eines Muslims aus Kenia. Während der stürmischen Wahlkampagne behauptete keiner ernsthaft, dass er kein echter Amerikaner sei.
Die amerikanische Flagge und die amerikanische Verfassung einigt diese moderne Nation. Der Präsident schwört nicht dem Vaterland die Treue, sondern der Verfassung. Nicht die Hautfarbe ist wichtig, auch nicht die ethnische Herkunft oder die Religion oder Sprache. Nur die Staatsbürgerschaft. Selbst die Forderung, dass der Bürger wenigstens englische Grundkenntnisse haben müsste, wird nicht mehr so streng wie früher gehandhabt.
Der Terminus WASP – die Anfangsbuchstaben von „weiße anglo-sächsische Protestanten“ – wurde schon vor langer Zeit zu einem fast witzigen Begriff. Demographische Experten sagen voraus, dass in nicht all zu weiter Zukunft die Weißen europäischen Ursprungs im amerikanischen Nationalstaat zur Minderheit werden. Aber es scheint, dass diese Nachricht keinen Alarm auslöst.
Jeder begreift, dass die Zukunft und Stärke der amerikanischen Nation nicht von der Religion und der Rasse der Amerikaner abhängt. Deshalb gibt es kein „demographisches Problem“ in Amerika. Neurotische Demographen wie unser Arnon Sofer würden dort als Spinner angesehen.
WIE IN einigen andern Aspekten sind die USA ein Modell für den Rest der Welt – auch in dieser Hinsicht.
In Europa bestehen die alten Nationalstaaten weiter. Selbst nach dem 2.Weltkrieg, nachdem die Europäer aus ihrem tödlichen nationalistischen Rausch aufgewacht waren und zu der Schlussfolgerung kamen, dass sie ein vereinigtes Europa schaffen müssten, widerstanden sie der Idee, eine vereinigte europäische Nation nach amerikanischem Modell zu schaffen. Sie errichteten nicht die „Vereinigten Staaten Europas“, sondern eine „Europäische Union“, die aus einer großen Anzahl von Nationalstaaten zusammengesetzt ist. Aber ein Deutscher oder ein Franzose, der vor 200 Jahren lebte, würde jedenfalls kaum seinen Augen trauen, wenn er heute die Menschen „Unter den Linden“ in Berlin oder auf den „Champs-Eliseé“ in Paris sehen würde.
Die europäischen Nationen verändern sich. Sie haben sich der Welt gegenüber geöffnet. Die Idee von einer homogenen Nation, die sich auf einen gemeinsamen Ursprung gründet, schwindet dahin. Langsam, vielleicht zu langsam, wächst die Toleranz gegenüber „dem Fremden in unserer Mitte“, und die Staatsbürgerschaft wird Einwohnern aus verschiedenen Ethnien und Religionen gewährt, wie den Türken in Deutschland und den Afrikanern in Frankreich. Es ist ein schwieriger Prozess, der sehr langsam vorangeht – aber dies ist die Richtung.
Es ist auch nötig allein für das Überleben der europäischen Nationen. Die Geburtsrate nimmt ab. Es gibt immer weniger lokale Arbeiter, die die Wirtschaft aufrecht erhalten und die nötigen Steuern für die Pensionen der alternden Bevölkerung zahlen. Europa braucht einen ständigen Strom neuer Immigranten, und diese werden den europäischen Nationen beitreten.
Angela Merkel wird den türkischen Bürgern nicht sagen: „ Ihr habt hier zwar die gleichen Rechte, doch ihr gehört zum türkischen Nationalstaat.“ Man kann sich kaum vorstellen, dass Gordon Brown den britischen Bürgern pakistanischer Herkunft sagen würde: „Euer Nationalstaat ist Pakistan.“
Die arabischen Bürger Israels könnten mit den schwedischen Bürgern Finnlands verglichen werden. Diese stellen etwa 6% der Bevölkerung dar, aber sie spielen eine bedeutende Rolle in der Wirtschaft des Landes und in anderen Lebensgebieten. Alle Schilder in Finnland sind zweisprachig. Finnland gehört allen seinen Bürgern. Ariel Sharons Berater Dov Weisglas sagte einmal: „Frieden wird es nur dann geben, wenn die Palästinenser Finnen werden“ . Vielleicht wäre es akkurater, wenn man sagen würde: „Frieden wird es nur dann geben, wenn wir – die jüdischen Israelis selbst ‚Finnen werden’“.
Die israelisch-arabischen Bürger in Kafr Kassem und in Umm-el-Fahm – nahe der Grünen Linie – kann man mit den Elsässern Frankreichs vergleichen, die dort seit unzähligen Generationen lebten. Zu verschiedenen Zeiten der Geschichte gehörten sie zu Deutschland. Das letzte Mal schloss Adolf Hitler sie dem 3. Reich an. Heute sind die Elsässer so französisch wie alle Franzosen mit den gleichen Rechten und Verpflichtungen - und andere Aspekte interessieren keinen. Würde der französische Präsident Nicolas Sarkozy, Sohn eines ungarischen Adligen, erklären, dass der Nationalstaat der Elsässer Deutschland sei?
ICH WEISS, ich weiß, all diese Beispiele sind nicht auf uns anzuwenden. Wir Juden sind etwas Besonderes. Tatsache ist: Gott hat uns auserwählt.
Aber mit allem nötigen Respekt gegenüber Gott und Zipi Livni, muss ich der Kadima-Kandidatin sagen: „Madame, was Sie da sagen, ist längst überholt.“ Seit Vladimir Jabotinsky vor 128 Jahren in die jüdische Minderheit in Odessa geboren wurde, ist viel Wasser den Dnjestr hinuntergeflossen. Und ich bin mir nicht sicher, ob er Zipis Statement unterschreiben würde. Als er schrieb, dass in unserem zukünftigen Staat „der Sohn des Arabers, der Sohn aus Nazareth, und mein Sohn“ glücklich zusammen leben würden, meinte er damit nicht, dass der jüdische Staat, von dem er träumte, auch der Staat seiner arabischen Bürger sei?
Ich bin davon überzeugt, dass es noch lange Nationalstaaten geben wird. Es scheint, dass dies die soziale Struktur ist, die die Menschen heute für unsere Zeit bevorzugen. Jeder braucht anscheinend die nationale Identität.
Aber es wird kein enger, abgeschlossener Nationalstaat sein, zwanghaft homogen, der sich auf eine nationalistisch-religiös-sprachliche Konformität gründet und seinen Nachbarn gegenüber feindlich gesinnt ist. Der neue Nationalstaat wird offen und kosmopolitisch sein, die Minoritäten respektieren, ein Staat all seiner Bürger, integriert in eine regionale Partnerschaft, ein Teil der globalen Wirtschaft, ein Partner im gemeinsamen Kampf um die Erhaltung dieses kleinen Planeten.
Dies sollte die Zukunft sein. Und wann beginnt die Zukunft, wenn nicht heute?
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Gush Shalom: Das Feiglin-Syndrom
Zipi Livni schlägt die Kriegstrommel
Und ruft zur Invasion in den Gazastreifen auf.
Kriegstreiber lehnen jede Friedenschance ab.
Und wir haben eine Menge von ihnen
Von Netanyahu bis Feiglin
Und alle dazwischen und rund um sie.
Damit Kadima das Vertrauen der Wähler gewinnt
Muss es eine vernünftige Alternative geben:
Erneuerung der Feuerpause an der Grenze zum Gazastreifen
Und ein echter Schritt in Richtung Frieden mit den Führern
Die die Palästinenser gewählt haben.
Inserat in Haaretz, am 12. Dezember 2008