Der Frieden zwischen Israel und Palästina ist möglich !!

Uri Avnery vertritt seit 1948 die Idee des israelisch-palästinensischen Friedens und die Koexistenz zweier Staaten: des Staates Israel und des Staates Palästina, mit Jerusalem als gemeinsamer Hauptstadt. Uri Avnery schuf eine Weltsensation, als er mitten im Libanonkrieg (1982) die Front überquerte und sich als erster Israeli mit Jassir Arafat traf. Er stellte schon 1974 die ersten geheimen Kontakte mit der PLO-Führung her.

  • Uri Avnery trifft Jassir Arafat - Foto Uri Avnery 1982

  • Festakt zur Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaille 2008 der Internationalen Liga für Menschenrechte. Von links nach rechts: Mohammed Khatib & Abdallah Aburama (Bürgerkomitee von Bil'in), Rachel Avnery, Fanny-Michaela Reisin (Präsidentin der Liga), Uri Avnery, Adi Winter & Yossi Bartal (Anarchists against the wall) - Foto Michael F. Mehnert CC BY-SA 3.0

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Archiv

Aug 5, 2017

Sehnsuchtsvolle Augen


 

Uri Avnery, 5. August 2017

 

DIE GANZE Welt beobachtet mit angehaltenem Atem, während die Tage vorübergehen. Dann die Stunden. Dann die Minuten.

 

Die Welt beobachtet, während der verurteilte Mann, Muhammad Abu-Ali aus Qalqilia, auf seine Hinrichtung wartet.

 

Abu-Ali war ein schuldig befunderner Terrorist. Er hatte ein Messer gekauft und vier Mitglieder einer Familie in der nahen jüdischen Siedlung getötet. Er hat allein in einem Anfall von Zorn gehandelt, nachdem sein geliebter Cousin Ahmed von israelischen Grenz-Polizisten während einer Demonstration erschossen und getötet wurde.

 

Dies ist ein imaginärer Fall. Aber er ähnelt sehr stark dem, was geschehen würde, wenn ein realer Fall, der jetzt ansteht, seinen Lauf nehmen würde.



IN ISRAEL gibt es keine Todesstrafe. Sie wurde während der ersten Jahre des Staates abgeschafft, als die Exekution der jüdischen Untergrundkämpfer (von den Briten „Terroristen“ genannt) noch immer frisch in jedermanns Gedächtnis war.

 

Es war ein feierliches und festliches Ereignis. Nach der Abstimmung ein ungeplanter Gefühlsausbruch: die ganze Knesset erhob sich und stand eine Minute lang still. In der Knesset sind solche Gefühlsausbrüche wie Klatschen verboten.

 

An diesem Tag war ich stolz auf meinen Staat, der Staat, für den ich auch mein Blut vergossen habe.

 

VOR DIESEM Tag waren zwei Leute in Israel hingerichtet worden.

 

Der erste wurde während der frühen Tage des Staates erschossen. Ein jüdischer Ingenieur wurde angeklagt, eine Information an die Briten weitergegeben zu haben, die es den Arabern weitergaben. Drei militärische Offiziere bildeten ein Militärgericht und verurteilten ihn zu Tode. Später stellte sich heraus, dass der Mann unschuldig war.

 

Das zweite Todesurteil wurde über Adolf Eichmann verhängt, einem österreichischen Nazi, der 1944 die Deportation der ungarischen Juden ins Todeslager dirigierte. Er war in der Nazi-Hierarchie nicht weit oben, nur ein „Obersturmbannführer“ in der SS. Aber es war der einzige Nazi-Offizier, mit dem jüdische Führer in direkten Kontakt kamen. Nach ihrer Ansicht war er ein Monster.

 

Als er in Argentinien entführt und nach Jerusalem gebracht wurde, sah er wie ein durchschnittlicher Bankangestellter aus, nicht sehr eindrucksvoll und nicht sehr intelligent. Als er zu Tode verurteilt wurde, schrieb ich einen Artikel, in dem ich mich fragte, ob ich für die Hinrichtung war. Ich sagte: „Ich wage nicht, ja zu sagen und ich wage nicht, nein zu sagen.“ Er wurde gehängt.

 

EIN PERSÖNLICHES Bekenntnis: Ich kann keine Küchenschabe töten. Ich bin auch nicht in der Lage, eine Fliege zu töten. Das ist keine bewusste Aversion. Es ist fast physisch.

 

Es war nicht immer so. Als ich gerade 15 Jahre alt war, schloss ich mich einer „terroristischen“ Organisation, der Irgun, an („nationale Militär-Organisation“), die damals auf arabischen Märkten eine Menge Leute tötete, einschließlich Frauen und Kinder, als Rache für das Töten von Juden während der arabischen Rebellion.

 

Ich war zu jung, um selbst an diesen Aktionen tätig zu werden, aber meine Kameraden und ich verteilten stolz Flugblätter, die die Aktionen ankündigten. Also war ich ein Komplize, bis ich die Organisation verließ, weil ich begann, „Terrorismus“ abzulehnen.

 

Aber die wirkliche Veränderung meines Charakters begann, nachdem ich im 1948er-Krieg verletzt wurde. Mehrere Tage und Nächte lang lag ich in meinem Krankenhausbett, unfähig zu essen, zu trinken oder zu schlafen – ich dachte nur nach. Das Ergebnis war, meine Unfähigkeit irgendeinem lebendigen Wesen, einschließlich Menschen das Leben zu nehmen.

 

Also bin ich natürlich ein Todesfeind der Todesstrafe. Mit ganzem Herzen begrüßte ich ihre Abschaffung von der Knesset (bevor ich selbst ein Mitglied dieser nicht sehr erhabenen Körperschaft wurde).

 

Aber vor ein paar Tagen erinnerte jemand daran, dass die Todesstrafe nicht wirklich ganz abgeschafft wurde. Ein obskurer Paragraph im Militär-Kode ist in Kraft geblieben. Jetzt gibt es einen Aufschrei für seine Anwendung.

 

Der Anlass ist der Mord an drei Mitgliedern einer jüdischen Familie in einer Siedlung. Der arabische Angreifer wurde verletzt, aber nicht an Ort und Stelle getötet, wie das sonst geschieht.

 

Die ganze Qlique des rechten Flügels, die Israel jetzt regiert, brach in einen Chor von Forderungen nach der Todesstrafe aus. Benjamin Netanjahu schloss sich dem Chor an wie die meisten Mitglieder des Kabinetts.

 

Netanjahus Haltung ist verständlich. Er hat keine Prinzipien. Er schließt sich der Mehrheit seiner Basis an. Im Augenblick ist er tief in eine riesige Korruptionsaffäre verstrickt, die sich um die in Deutschland gebauten Unterseeboote dreht. Sein politisches Schicksal hängt an einem Faden. Keine Zeit für moralische Haarspalterei.

 

LEGEN WIR einen Augenblick meine persönliche geistige Unfähigkeit in Bezug auf die Todesstrafe beiseite, beurteilt man das Problem auf einer rationalen Basis, so zeigt dies, dass es ein riesiger Fehler ist.

 

Die Hinrichtung einer Person, die von ihrem eigenen Volk für einen Patriot gehalten wird, wird großen Zorn und einen tiefen Wunsch nach Rache auslösen. Für jede Person, die zu Tode gebracht wird, erheben sich ein Dutzend andere und übernehmen ihren Platz.

 

Ich spreche aus Erfahrung. Wie ich schon erwähnt habe, schloss ich mich mit knapp 15 Jahren dem Irgun an. Ein paar Wochen vorher hatten die Briten einen jungen Juden aufgehängt, Shlomo Ben-Yossef, der auf einen Bus voller Frauen und Kinder geschossen hatte, ohne jemanden zu treffen. Er war der erste Jude in Palästina, der exekutiert wurde.

 

Später, nachdem ich schon dem „Terrorismus“ abgeschworen hatte, wurde ich noch einmal emotional involviert, als die Briten noch jüdische „Terroristen“ hängten. (Ich bin stolz darüber, die einzige wissenschaftlich richtige Definition über „Terrorismus“ erfunden zu haben: Ein Freiheitskämpfer ist auf meiner Seite, ein Terrorist auf der andern Seite.)

 

EIN ANDERES Argument gegen die Todesstrafe ist das eine, das ich anfangs in diesem Artikel beschrieb: die inhärente dramatische Wirkung dieser Strafe.

 

Von dem Augenblick an, in dem eine Todesstrafe gefällt wird, ist die ganze Welt, nicht nur das ganze Land darin verwickelt. Von Tel Aviv bis Tokio, von Paris bis Pretoria, erregt es Millionen von Menschen, die kein Interesse an dem israelisch-palästinensischen Konflikt haben. Das Schicksal des verurteilten Mannes beginnt, ihr Leben zu bestimmen.

 

Die israelischen Botschaften werden von Botschaften guter Leute überhäuft. Menschenrechtsorganisationen von überall werden involviert sein. Straßen-Demonstrationen werden in vielen Städten stattfinden und von Woche zu Woche wachsen.

 

Die israelische Besatzung des palästinensischen Volkes – bis dahin ein kleines Nachrichtenthema in Zeitungen und in TV-Nachrichten wird der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit sein. Verleger werden Sonder-Korrespondenten schicken, Experten werden es abwägen. Einige Staatshäupter werden versucht sein, sich dem Präsidenten von Israel zu nähern und um Nachsicht bitten.

 

Da das Datum der Exekution sich nähert, wird der Druck stärker. In Universitäten und in Kirchen wird der Aufruf zum Boykott Israels schriller. Die israelischen Diplomaten werden dringend das Außenministerium in Jerusalem alarmieren. Botschaften werden anti-Terror-Vorsichtsmaßnahmen stärken.

 

Die israelische Regierung wird in dringenden Notsitzungen zusammenkommen. Einige Minister werden den Rat geben, die Strafe umzuwandeln. Andere werden behaupten, dass dies Schwäche zeigen und zum Terror ermutigen würde. Netanjahu wird - wie gewöhnlich- unfähig sein, zu entscheiden.

 

ICH WEIß, dass diese Art des Arguments zu einer falschen Schlussfolgerung führen kann: arabische Angreifer an Ort und Stelle zu töten.

 

Tatsächlich ist dies eine zweite Diskussion, die Israel im Moment auseinander reißt: der Fall von Elor Asaria, ein Soldat und Feldsanitäter, der aus der Nähe einen verletzten arabischen Angreifer, der schwer blutend auf dem Boden lag, erschoss.

 

Ein Militärgericht verurteilte Asaria zu anderthalb Jahren Gefängnis und bestätigte die Strafe in der Berufung . Viele wünschen, dass er entlassen wird. Andere, einschließlich wieder Netanjahu, wollen, dass seine Strafe umgewandelt wird.

 

Asaria und seine ganze Familie erfreuen sich sehr, im Zentrum der nationalen Aufmerksamkeit zu stehen. Sie sind davon überzeugt, dass er das Richtige getan hätte, entsprechend einem ungeschriebenen Diktum, dass es keinem arabischen „Terroristen“ erlaubt werden sollte, am Leben zu bleiben.

 

Tatsächlich wurde dies vor Jahren offen vom damaligen Ministerpräsidenten Yitzhak Shamir gefordert, (der selbst als Führer der Lehi-Untergrundgruppe einer der erfolgreichsten „Terroristen“ des 20.Jahrhunderts war. Dafür musste er nicht sehr intelligent sein.)

 

EGAL AUS welcher Ecke man dies anschaut, die Todesstrafe ist eine barbarische und stupide Maßnahme. Sie ist von allen zivilisierten Ländern abgeschafft worden, außer in einigen US-Staaten (die man kaum zivilisiert nennen kann).

 

Immer, wenn ich über dieses Thema nachdenke, erinnere ich mich an die unsterblichen Zeilen von Oscar Wilde in seiner „Ballad of Reading Gaol“( „Ballade vom Reading Gefängnis“). Wilde beobachte einen verurteilter Mörder, der auf seine Hinrichtung wartete, und schrieb:

 

„Niemals sah ich einen Mann, der mit solch sehnsüchtigem Auge auf das kleine blaue Zelt schaute, das Gefangene den Himmel nennen…“

 

(dt. Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)