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König des Planeten
Uri Avnery
DER PRÄSIDENT der Vereinigten Staaten von Amerika ist der König dieses Planeten. Ich lebe auf diesem Planeten. Deshalb geht mich die Wahl des Präsidenten etwas an. Sogar sehr viel.
Der Präsident ist nicht der einzige Herrscher der Welt. Es gibt noch andere Herrscher, wenn auch weniger mächtige. Seine Entscheidungen sind von vielen Beschränkungen abhängig, die außerhalb seiner Kontrolle liegen. Aber es gibt keine andere Person auf Erden, deren Entscheidungen solchen Einfluss auf unser Leben hat.
Die acht Jahre von George W. Bush können als Beispiel dienen. Der primitive Charakter des Mannes, seine geringen intellektuellen Fähigkeiten, seine Vergangenheit als "wiedergeborener" christlicher Eiferer – all dies hat den Zustand der Welt beeinflusst: sein Versagen, den 11. September 2001 zu verhindern, seine blutigen Abenteuer in Afghanistan und im Irak, der Kollaps der Weltwirtschaft.
Aber jeder von uns, Bürger dieser Welt, die bei diesen Wahlen nicht wählen können, hat wenigstens das Recht, zu sagen, welchen der Kandidaten er oder sie im Weißen Haus bevorzugen würde.
Ich bevorzuge Barack Obama.
WAHLEN SIND keine Schönheitswettbewerbe. Ein weiser Wähler muss die Kriterien definieren, nach denen er seine Wahl zu machen beabsichtigt.
Für mich ist das Hauptmerkmal, das alle anderen überwiegt, die Fähigkeit, große vorfallende Veränderungen schnell zu erkennen und ohne Verzögerung die notwendigen Schlüsse zu ziehen.
Nach den Worten des alten griechischen Philosophen Heraklit „alles fließt“ wissen wir, dass die Welt nicht einen Moment still steht. In unserer Zeit geschehen die Veränderungen sogar noch schneller und dramatischer als vor 200 Jahren. Die Entwicklung der Technologie, die Verbreitung des Internets, die Globalisierung, der Klimawandel, der Kollaps in der Wirtschaft, der Trend der Abwanderung, die Veränderungen in der weltweiten Machtbalance – diese und andere Faktoren machen deutlich, dass Veränderungen immer häufiger und radikaler werden.
Die Fähigkeit, sich einer neuen Situation schnell anzupassen, ist ein entscheidendes Attribut für einen Führer. Nachdem er sich erfolgreich mit der Weltwirtschaftskrise auseinandergesetzt hat, reagierte Franklin Delano Roosevelt schnell auf Pearl Harbor. Winston Churchill erkannte vor anderen die Gefahr, die in der aufstrebenden Macht Hitlers in Deutschland steckte. Der junge und unerfahrene John Kennedy befasste sich entschlossen mit der Kuba-Raketen-Krise, die die Welt an den Rand eines 3. Weltkrieges gebracht hätte. Mikhail Gorbachov überblickte den plötzlichen Kollaps des Sowjetblockes und vermied weltweites Blutvergießen. Der nächste amerikanische Präsident wird sofort mit einer wirtschaftlichen Krise konfrontiert werden, die das Antlitz der Erde zu verändern im Begriff ist.
Der Präsident ähnelt einem Steuermann auf einem Segelboot, der jeden Augenblick für eine Veränderung der Windrichtung oder gar für einen Hurrikan bereit sein muss.
Welcher von beiden – Barack Obama oder John McCain – ist besser für diesen Job geeignet? Der ältere Republikaner, der sich selbst als Nachfolger einer langen Reihe von Admiralen sieht und dessen geistige Welt in der Mitte des 20. Jahrhunderts steckt, oder der (verhältnismäßig) junge Demokrat, ein Mann des 21. Jahrhunderts?
DER ZWEITE Test betrifft – in meinen Augen - den Charakter der Kandidaten. Eine Person kann wohl ihre Meinung ändern, aber kaum ihren Charakter. Ein solides – aber nicht übertriebenes - Selbstvertrauen, Selbstdisziplin, Besonnenheit in einer Krise – wird großen Einfluss auf die Fähigkeit haben, ihre Aufgaben auszuführen.
Wir haben die beiden bei den großen TV-Debatten gesehen. Man sollte nicht zu viel Aufmerksamkeit dem schenken, was dort gesagt wurde – alles, was bei einer Wahlkampagne gesagt wird, dient nur dem Stimmenfang. Aber wir sahen, wie die beiden Kandidaten sich unter extremem Stress verhielten. Obama hatte sich wunderbar unter Kontrolle. Seine Selbstkontrolle war keinen Augenblick unsicher. Er reagierte nicht auf Provokationen, und er behielt die ganze Zeit einen kühlen Kopf. McCain hatte sich viel weniger unter Kontrolle.
Die wichtigste Entscheidung, die beide während der Wahlkampagne treffen mussten, war die Wahl eines Kandidaten für die Vizepräsidentschaft. Da der Vizepräsident annehmen kann, dass er vom einen zum andern Augenblick die Macht übernimmt – und darüber, dass es geschieht, besteht tatsächlich eine hohe Wahrscheinlichkeit – so sagt uns dies viel über den, der dies entscheidet.
Obamas Entscheidung war verantwortlich und vernünftig. Er wählte keine brillante oder charismatische Person, sondern jemanden, der in den Staatsangelegenheiten versiert ist und ohne Probleme das Office übernehmen kann.
McCains Entscheidung war ein zum Himmel schreiender Skandal. Dies müsste genügen, ihn vom hohen Amt auszuschließen – nicht wegen Sarah Palins Meinungen oder ihres Charakters, sondern weil sie völlig unfähig ist, die Rolle einer Präsidentin auszufüllen.
Die Wahl weist auf einen grundsätzlichen Fehler in McCains Charakter. Er wählte sie auf Grund augenblicklicher Bedürfnisse – um eine schlapp gewordene Kampagne wieder zu beleben und um die Medien zu überraschen, während er gleichzeitig an die primitivsten Schichten der amerikanischen Gesellschaft appellierte. Wegen flüchtiger Zweckdienlichkeit gefährdet er die Zukunft des Landes.
Eine Person, die solch eine falsche Entscheidung treffen kann, sollte nicht in die Position gelangen, das mächtigste Land zu führen und die stärkste Militärmacht der Erde zu befehligen.
Außerdem sollten sich die Wähler fragen: falls der Präsident einen Herzschlag erleidet wie Ariel Sharon oder ermordet wird wie John F.Kennedy, würden sie dann lieber Biden oder Palin im Amt des Präsidenten sehen?
Was mich selbst betrifft, so würde ich allein vor dem Gedanken zurückschrecken, diese primitive und gehässige Demagogin Sarah Palin könne die „Führerin der freien Welt“ werden.
EIN DRITTER Test ist die Fähigkeit, Mitarbeiter auszuwählen. Dies ist ein bedeutsames Attribut.
Ein starker Führer mit großem Selbstvertrauen wählt hoch qualifizierte Mitarbeiter aus, Leute, die bereit sind, unabhängige Meinungen vorzubringen und dem Chef auch zu widersprechen. Ein Führer, dem das Selbstvertrauen fehlt, umgibt sich mit Schmeichlern und Jasagern, die ihm nur das sagen, was er gerne hören will. John F. Kennedy umgab sich mit den Besten und Intelligentesten. George W. gehört zur zweiten Kategorie.
Ich beurteile die israelischen Führer nach diesem Maßstab. Yigal Allon, ein sehr bewunderter General und Politiker, umgab sich mit intelligenten jungen Männern, die auch nicht zögerten, ihn mitten in seiner Rede zu unterbrechen und ihm zu widersprechen. Menachem Begin umgab sich mit Leuten, die mit jedem seiner Worte einverstanden waren.
Ein starker Führer fordert zu Meinungsverschiedenheiten, Streitgesprächen, Brainstorming heraus. Ein Führer, der nur vorgibt, stark zu sein, duldet keine Opposition (wie der größte Diktator, Adolf Hitler, der in Wut ausbrach, wenn ihm jemand zu widersprechen wagte).
Politik ist an sich schon ein Beruf. Die meisten Politiker haben keine tieferen Kenntnisse über anderes, gewiss nicht auf den Gebieten, auf denen sie schicksalhafte Entscheidungen zu treffen haben – von der Wirtschaft bis zur Militärstrategie. Deshalb ist die Wahl der richtigen Berater und die Bereitschaft, mit wachem Verstand zuzuhören, Neues zu lernen und darüber nachzudenken, eine der wesentlichen Qualitäten. Ich habe den Eindruck, dass Obama dies tun könnte. Bei McCain bin ich mir gar nicht sicher.
ES GIBT noch einen anderen wichtigen Gesichtspunkt, der bei der Wahl berücksichtigt werden müsste: in anderthalb Wochen wird nicht nur ein Präsident gewählt werden, sondern auch eine große Anzahl ranghoher Beamter für alle Bereiche der Regierung.
Im amerikanischen System bringt der neue Herr des Weißen Hauses Tausende von neuen Beamten mit sich, deren Kollegen in anderen Ländern zur permanenten Beamtenschaft gehören. Man kann sich leicht den riesigen Unterschied zwischen jenen vorstellen, die Obama mit sich bringen wird und jenen, die mit McCain kommen würden.
Man sollte den Obersten Gerichtshof nicht vergessen, der im amerikanischen System eine zentrale Rolle spielt (wie es jetzt auch in Israel der Fall ist). Es ist der Präsident, der die neuen Richter wählt. Die Berufung von ein oder zwei kann schon weitreichende Veränderungen mit sich bringen.
WENN MAN über die Wahl des Präsidenten der USA spricht, ist es auch sehr wichtig, die Offenheit des Kandidaten für die weite Welt zu berücksichtigen.
Die USA sind nicht nur ein Land, sondern ein Kontinent. Vielen seiner Bürger ist die Welt völlig egal, und sie wollen gar nichts über sie wissen. Schüler sind nicht in der Lage, China oder Brasilien auf dem Atlas zu zeigen. Wie frühere Weltreiche sehen sich die USA selbst als Insel der Zivilisation in einem Meer von Barbarei. (Genau wie Ehud Barak, sein Israel als „eine Villa mitten im Dschungel“ beschreibt).
George Bush kam mit minimalen Kenntnissen über die Welt ins Weiße Haus. John McCain weiß nicht viel mehr. Er wurde zwar im amerikanisch militärischen Ghetto in Panama geboren und schmachtete fünf Jahre lang in einem vietnamesischen Gefängnis; dies macht ihn aber noch nicht zu einem Weltbürger.
In dieser Hinsicht hat Obama einen Vorteil, wie ihn kein anderer Präsident vor ihm hatte. Er ist der Sohn eines schwarzen Vaters aus Kenia und einer weißen amerikanerischen Mutter. In seiner Kindheit besuchte er eine Schule in Indochina. Seine vielfältigen Wurzeln und Erfahrungen geben ihm einen weiteren Horizont als McCain. Für einen Neuen im Weißen Haus ist dies ein besonderer Pluspunkt. Es gibt Dinge, die man nicht von andern lernen kann – hier zählen die persönlichen Erfahrungen.
ICH SOLLTE eine persönliche Bemerkung hinzufügen. Ich gehöre einer Generation an, die in ihrer Jugend voll Bewunderung für die USA war. Wir sahen die USA als das freieste Land in der Welt an, eine idealistische Gesellschaft, eine Bastion für Demokratie und Menschenrechte. In zwei Weltkriegen eilten sie denen zu Hilfe, die vor der Tyrannei gerettet werden mussten.
Als wir erwachsen waren, fanden wir heraus, dass dem nicht ganz so ist. Wir sahen, dass die USA wie alle anderen Staaten und zuweilen schlimmer als diese sind. Während der letzten acht Jahre haben sich die USA der Welt selbst als ein arrogantes, tyrannisches, primitives und aggressives Land dargestellt, das rücksichtslos über die Menschenrechte seiner eigenen oder ausländischen Bürger hinweggeht, Folter rechtfertigt, abscheuliche Konzentrationslager hält und so weiter…
Die Wahl des Barack Obama, eines Mannes, der zur einen Hälfte schwarz und zur andern weiß ist, und dessen Überzeugungen liberal und demokratisch sind, kann uns unser Vertrauen gegenüber den USA wieder zurückgeben. Es würde deutlich machen, dass - wie es schon mehrfach in ihrer Geschichte geschah – die USA sich von einem Abgrund noch rechtzeitig zurückziehen und sich selbst wieder finden können, wie sie es nach der Joe McCarthy-Ära taten.
Ich mache mir keine großen Illusionen. Mir ist bewusst, dass auch unter den besten Umständen eine einzige Person nicht in der Lage ist, solch ein riesiges Schiff in eine völlig andere Richtung zu steuern. Aber auch kleine Veränderungen könnten für die Welt von immenser Bedeutung sein und die Richtung völlig ändern.
Es könnte sein, dass ich eines Tages jedes Wort bedaure, dass ich hier geschrieben habe. Obama könnte sich als Enttäuschung erweisen – und vielleicht sogar sehr. Wir kennen die Zukunft nicht. Heute können wir nur auf der Grundlage dessen urteilen, was wir heute wissen, nach unsern Eindrücken und Gefühlen von heute.
Und diese sagen mir: Obama.
(Aus dem Englischen Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Gush Shalom
Immer wieder greifen Siedler
Die palästinensischen Olivenpflücker an.
Die Armee und die Polizei schauen zu
Oder erklären den Olivenhain
Zu einem geschlossenen militärischen Gebiet
Und vertreiben die Palästinenser.
Soldaten und Polizisten, die es wagen
Sich den Siedlern entgegen zu stellen,
Werden selbst angegriffen
Ohne dass sie von ihren Offizieren
Unterstützt werden.
Wenn wir die Besatzung nicht beenden
Werden die Siedler auch uns besetzen.
Inserat am 24.Oktober 2008 in Haaretz