Der Frieden zwischen Israel und Palästina ist möglich !!

Uri Avnery vertritt seit 1948 die Idee des israelisch-palästinensischen Friedens und die Koexistenz zweier Staaten: des Staates Israel und des Staates Palästina, mit Jerusalem als gemeinsamer Hauptstadt. Uri Avnery schuf eine Weltsensation, als er mitten im Libanonkrieg (1982) die Front überquerte und sich als erster Israeli mit Jassir Arafat traf. Er stellte schon 1974 die ersten geheimen Kontakte mit der PLO-Führung her.

  • Uri Avnery trifft Jassir Arafat - Foto Uri Avnery 1982

  • Festakt zur Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaille 2008 der Internationalen Liga für Menschenrechte. Von links nach rechts: Mohammed Khatib & Abdallah Aburama (Bürgerkomitee von Bil'in), Rachel Avnery, Fanny-Michaela Reisin (Präsidentin der Liga), Uri Avnery, Adi Winter & Yossi Bartal (Anarchists against the wall) - Foto Michael F. Mehnert CC BY-SA 3.0

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Feb 27, 2010

Weiße Lüge


UM DIE Zukunft Israels zu bewahren, muss man damit beginnen, das Gerüst vom Gebäude abzureißen. Mit andern Worten: die „weiße Lüge“, dass Religion gleich Nation sei, zu begraben. Die israelische Nation muss als die Basis des Staates anerkannt werden.

 

Wenn dieses Prinzip akzeptiert wird, wie wird dann die zukünftige Gestalt Israels – innerhalb der grünen Linie – aussehen?



Weiße Lüge *

 

Uri Avnery, 27.2.10

 

AM KOMMENDEN Mittwoch wird der Oberste Gerichtshof Israels den Antrag einer Gruppe israelischer Bürger bearbeiten, um das Innenministerium dahin zu bringen, sie als Angehörige der „israelischen Nation“ zu registrieren .

 

Merkwürdig? Tatsächlich.

 

Das israelische Innenministerium erkennt 126 Nationen an, aber keine israelische Nation. Ein israelischer Bürger kann als Angehöriger der assyrischen, der tatarischen oder der tscherkessischen Nation eingetragen werden. Aber eine israelische Nation? Pardon, die gibt es nicht.

 

Nach der offiziellen Doktrin kann der Staat Israel eine israelische Nation nicht anerkennen, weil es der Staat der „jüdischen“ Nation ist. Mit andern Worten, der Staat gehört den Juden in Brooklyn, Budapest und Buenos Aires, obwohl diese sich selbst als Angehörige der amerikanischen, ungarischen oder argentinischen Nation ansehen.

 

Verwirrend? Tatsächlich.

 

 

DIESE VERWIRRUNG entstand vor 113 Jahren, als der Wiener Journalist Theodor Herzl das Buch „Der Judenstaat “ schrieb. Zu diesem Zweck musste er (geistig) eine akrobatische Übung vollziehen. Man kann sagen, dass er eine weiße Lüge* benützt hat.

 

Der moderne Zionismus entstand als direkte Reaktion auf den modernen Antisemitismus. Nicht durch Zufall kam der Terminus „Zionismus“ 20 Jahre, nachdem der Terminus „Antisemitismus“ in Deutschland erfunden wurde, auf.

 

In Europa und den beiden Amerikas blühte gerade ein anderer moderner Terminus: der Nationalismus. Menschen, die Jahrhunderte lang zusammen unter Dynastien von Kaisern und Königen gelebt hatten, wollten zu eigenen Nationalstaaten gehören. In Argentinien, den USA, Frankreich und anderen Ländern fanden „nationale“ Revolutionen statt. Die Idee infizierte fast alle Völker, die großen, die kleinen und die winzigen, von Peru bis Litauen, von Kolumbien bis Serbien. Sie hatten das Gefühl, an diesen Ort und zu diesem Volk zu gehören, wo sie lebten und starben.

 

All diese nationalen Bewegungen waren notwendigerweise antisemitisch, die einen mehr, die andern weniger, weil die reine Existenz der jüdischen Diaspora gegen ihre grundsätzlichen Vorstellungen ging. Eine Diaspora ohne eine Heimat, zerstreut über Dutzende von Ländern, konnte nicht in Einklang mit der Idee einer in einem Heimatland verwurzelten Nation gebracht werden, die homogene Einheit suchte.

 

Herzl verstand, dass die neue Realität an sich für Juden gefährlich war. Anfangs spielte er mit der Idee der kompletten Assimilierung: alle Juden sollen getauft werden und in den neuen Nationen aufgehen. Als professioneller Schriftsteller fürs Theater dachte er sich sogar die Szene aus: alle Wiener Juden sollten geschlossen zum Stephansdom gehen und sich dort en masse taufen lassen.

 

Als ihm klar wurde, dass dieses Szenarium doch ein bisschen zu weit hergeholt war, kam er von der Idee der individuellen Assimilierung zu dem, was man kollektive Assimilierung nennen kann. Wenn es für die Juden in den neuen Nationen keinen Platz gab, dann sollten sie sich selbst zur Nation erklären wie alle anderen, die in ihrem eigenen Heimatland verwurzelt sind und in ihrem eigenen Staat leben. Diese Idee wurde Zionismus genannt.

 

 

ABER DA gab es ein Problem: es gab gar keine jüdische Nation. Die Juden waren keine Nation, sondern eine religiös-ethnische Gemeinde.

 

Eine Nation besteht auf einer Ebene der menschlichen Existenz, eine religiös-ethnische Gemeinschaft auf einer anderen. Eine „Nation“ ist eine Entität, die in einem Land mit einem gemeinsamen politischen Willen zusammenlebt. Eine „Kommunität“ ist eine religiöse Entität, die sich auf einen gemeinsamen Glauben gründet und in verschiedenen Ländern lebt. Ein Deutscher kann z.B. katholisch oder protestantisch sein, ein Katholik kann Deutscher oder Franzose sein.

 

Diese beiden Arten von Entitäten haben verschiedene Strategien des Überlebens wie verschiedene Tierarten in der Natur. Wenn ein Löwe in Gefahr ist, kämpft er; er greift an. Für diesen Zweck hat ihn die Natur mit Zähnen und Klauen ausgerüstet. Wenn eine Gazelle in Gefahr ist, rennt sie fort. Die Natur hat ihr schnelle Beine gegeben. Jede Methode ist gut, wenn sie effizient ist. (Wenn sie nicht effizient wäre, hätte die Art nicht bis zum heutigen Tag überlebt).

 

Wenn eine Nation in Gefahr ist, steht sie auf und kämpft. Wenn eine religiöse Gemeinschaft in Gefahr ist, geht sie woanders hin. Die Juden haben mehr als andere diese Art der Flucht perfektioniert. Sogar nach den Schrecken des Holocausts hat die Diaspora überlebt, und jetzt – zwei Generationen später - blüht sie wieder.

 

 

UM EINE jüdische Nation zu erfinden, musste Herzl diesen Unterschied ignorieren. Er behauptete, dass die jüdische ethnisch-religiöse Gemeinde auch eine jüdische Nation sei. Mit anderen Worten: im Gegensatz zu allen anderen Völkern waren die Juden beides, eine Nation und eine religiöse Gemeinschaft – so weit es Juden betrifft, sind die beiden ein und dasselbe. Die Nation war eine Religion, die Religion war eine Nation.

 

Dies war die „weiße Lüge“. Es gab keinen anderen Weg: ohne diesen hätte der Zionismus nicht entstehen können. Die neue Bewegung nahm den Davidstern von der Synagoge, den siebenarmigen Leuchter vom Tempel, die blau-weiße Flagge vom Gebetsschal. Das Heilige Land wurde zur Heimat. Der Zionismus füllte die religiösen Symbole mit weltlichem, nationalem Inhalt.

 

Die ersten, die die Verfälschung entdeckten, waren die orthodoxen Rabbiner. Fast alle verurteilten Herzl wegen seines Zionismus’ mit klaren Worten. Der extremste Rabbiner war der aus Lubavitch, der Herzl anklagte, das Judentum zu zerstören. Die Juden, schrieb er, sind darin mit einander verbunden, dass sie sich an Gottes Gebote halten. Doktor Herzl will dieses von Gott gegebene Band durch säkularen Nationalismus ersetzen.

 

Als Herzl die zionistische Idee erfand, beabsichtigte er nicht, den „Judenstaat“ in Palästina zu gründen, sondern in Argentinien. Als er sein Buch schrieb, widmete er unter der Überschrift „Palästina oder Argentinien“ dem Land sogar nur wenige Zeilen. Die Bewegung, die er schuf, zwang ihn jedoch, seine Bemühungen um das Land Israel (das damalige Palästina ) umzulenken, und deshalb entstand der Staat hier.

 

Als der Staat Israel gegründet und der zionistische Traum Wirklichkeit wurde, war keine „weiße Lüge“ mehr notwendig. Nachdem der Bau vollendet war, hätte das Gerüst entfernt werden sollen. Eine wirkliche israelische Nation war entstanden, da war keine phantasierte mehr nötig.

 

 

IN DIESEN Tagen gibt es im Fernsehen ein Inserat der größten israelischen Zeitung, Yedioth Aharonot, das die wichtigsten Schlagzeilen der Vergangenheit zeigt. Der Tag, an dem der Staat Israels gegründet wurde, meldet eine riesige Schlagzeile: „Hebräischer Staat!“

 

„Hebräischer“ Staat, nicht „Jüdischer“ Staat. Und das ist kein Zufall; zu diesem Zeitpunkt klang der Terminus „Jüdischer Staat“ entschieden seltsam. In den vorausgegangenen Jahren gewöhnten sich die Leute daran, eine klare Unterscheidung zu machen zwischen „jüdisch“ und „hebräisch“, zwischen den Dingen, die zur Diaspora gehören und jenen, die zu diesem Land gehören: Jüdische Diaspora, jüdische Sprache (jiddisch), das jüdische Stetl, jüdische Religion, jüdische Tradition – aber hebräische Sprache und Schrift, hebräische Landwirtschaft, hebräische Industrie, hebräische Untergrundorganisationen, hebräische Polizisten.

 

Wenn es so ist, warum erscheinen dann die Wörter „Jüdischer Staat“ in unserer Unabhängigkeits-erklärung ? Dafür gibt es einen einfachen Grund: Die UN hatte eine Resolution zur Teilung des Landes zwischen einem „arabischen Staat“ und einem „jüdischen Staat“ angenommen. Dies war die juristische Basis für den neuen Staat. Die Erklärung, die in Eile aufgesetzt wurde, besagte deshalb, dass wir dabei waren (entsprechend der UN-Resolution) einen „jüdischen Staat nämlich den ‚Staat Israel’“ zu errichten.

 

Das Gebäude wurde errichtet, aber das Baugerüst war nicht abgenommen worden. Im Gegenteil: es wurde zum bedeutendsten Teil des Gebäudes und beherrscht die Fassade.

 

 

WIE DIE meisten von uns glaubte David Ben-Gurion zu jener Zeit, dass der Zionismus die Religion verdrängt habe und dass die Religion überflüssig geworden sei. Er war sich ganz sicher, dass sie unwichtiger und im neuen säkularen Staat von alleine verschwinden würde. Er entschied, dass wir es uns leisten könnten, die Yeshiva-Studenten (Talmudschüler) vom Militär zu befreien, weil er glaubte, ihre Zahl würde von ein paar Hundert auf beinahe Null schrumpfen. Derselbe Gedanke veranlasste ihn, die religiösen Schulen weiter laufen zu lassen. Wie Herzl, der versprach „unsere Geistlichen in den Tempeln zu halten und unser Berufsheer in den Baracken“, so war sich Ben- Gurion sicher, dass der Staat ganz säkular sein würde.

 

Als Herzl den „Judenstaat“ schrieb, hätte er es sich nicht träumen lassen, dass die jüdische Diaspora weiter existieren würde. Seiner Ansicht nach würden in Zukunft nur die Bürger des neuen Staates „Juden“ genannt werden, alle anderen Juden in der Welt würden sich in ihren verschiedenen Nationen assimilieren und verschwinden.

 

 

ABER DIE „weiße Lüge“ Herzls hatte Folgen, die er sich nicht hätte träumen lassen, und so ging es auch mit den Kompromissen Ben-Gurions. Die Religion verschwand nicht in Israel – im Gegenteil: sie übernimmt die Macht im Staate. Die Regierung Israels spricht heute nicht vom Nationalstaat der Israelis, die hier leben, sondern vom „Nationalstaat der Juden“ – einem Staat, der den Juden in aller Welt gehört, von denen die meisten anderen Nationen angehören.

 

Die religiösen Schulen verschlingen das allgemeine Bildungssystem und sind dabei, es zu überwältigen, wenn uns nicht die Gefahr bewusst wird und wir nicht alles tun, um unsern israelischen Charakter zu bewahren. Die Netanyahu-Regierung will die Stimmrechte auch den Israelis zugestehen, die im Ausland leben, und dies ist ein Schritt in die Richtung, allen Juden auf der Welt das Stimmrecht zu geben. Und am wichtigsten: das hässliche Unkraut, das im national-religiösen Feld wächst – die fanatischen Siedler – stoßen den Staat in eine Richtung, die zu seiner Zerstörung führen kann.

 

 

UM DIE Zukunft Israels zu bewahren, muss man damit beginnen, das Gerüst vom Gebäude abzureißen. Mit andern Worten: die „weiße Lüge“, dass Religion gleich Nation sei, zu begraben. Die israelische Nation muss als die Basis des Staates anerkannt werden.

 

Wenn dieses Prinzip akzeptiert wird, wie wird dann die zukünftige Gestalt Israels – innerhalb der grünen Linie – aussehen?

 

Es gibt zwei mögliche Modelle und viele Variationen dazwischen.

 

Modell A: das Multi-Nationale. Fast alle Bürger Israels gehören zwei Nationen an: die Mehrheit gehört zur hebräischen Nation und eine Minderheit zur palästinensisch-arabischen. Jede Nation hat ihre Autonomie in gewissen Gebieten, wie Kultur, Bildung und Religion. Autonomie würde nicht territorial sein, sondern kulturell (wie Vladimir Ze’ev Jabotinsky vor hundert Jahren dem zaristischen Russland vorgeschlagen hatte.) Alle sind durch die israelische Staatsbürgerschaft und die Loyalität gegenüber dem Staat vereinigt. Die Diskriminierung der arabischen Minderheit wird eine Sache der Vergangenheit sein – genau wie der „demographische Dämon“.

 

Modell B: das amerikanische. Die amerikanische Nation ist zusammengesetzt aus allen US-Bürgern, und alle US-Bürger bilden die amerikanische Nation. Ein Immigrant aus Jamaika, der die US-Staatsangehörigkeit bekommt, wird automatisch ein Mitglied der amerikanischen Nation, ein Erbe George Washingtons und Abe Lincolns. Alle lernen in der Schule dasselbe Kernprogramm und dieselbe Geschichte.

 

Welches der beiden Modelle ist vorzuziehen? Meiner Ansicht nach ist Modell B viel besser. Aber es würde von einem Dialog zwischen der hebräischen Mehrheit und der arabischen Minderheit abhängen. Am Ende werden die arabischen Bürger dies entscheiden, ob sie den Status des gleichen Partners in einer allgemeinen israelischen Nation bevorzugen oder den Status einer anerkannten, autonom nationalen Minderheit in einem Staat, der ihre andere Kultur anerkennt und in Ehren hält, Seite an Seite mit der Kultur der Mehrheit.

 

In vier Tagen wird der Oberste Gerichtshof entscheiden, ob er bereit ist, den ersten Schritt auf diesem historischen Marsch zu tun.

 

* eine gut gemeinte Lüge z.B. wenn man einem Todkranken sagt, er werde bald gesund.

 

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

 

 

 

 

Gush Shalom (Inserat in Haaretz)

 

Das bescheidene Rachelgrab

Im Herzen Bethlehems

Das drei Religionen heilig ist

Ist in eine Festung verwandelt worden.

Muslime haben keinen Zutritt.

 

Die Machpelahöhle in Hebron

Die auch Ibrahimsmoschee heißt

Ist zum Verbrechernest von Baruch Goldstein

Und seinen Anhängern geworden.

 

Statt zum Modell

Interreligiöser Toleranz zu werden,

symbolisieren beide jetzt

das Erbe von Hass und Tod.

 

(dt. ER)

 

 

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